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Erinnerung an die Opfer von Hanau: Porträts der Getöteten an der Frankfurter Friedensbrücke

© dpa/Andreas Arnold

Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau: Wo ist die Zäsur, von der schnell die Rede war?

Nach dem rassistischen Anschlag von Hanau kam Corona und nahm die Aufmerksamkeit mit. Der Tat und den Hinterbliebenen wird das nicht gerecht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Es gibt ein Jahr nach dem Attentat eine Bildungsinitiative, die dazu beitragen will, dass so etwas nicht noch mal passiert. Gegründet hat die nicht die Stadt Hanau oder das Land Hessen. Sondern Serpil Unvar, die Mutter eines der Toten.

Es gibt ein Ladenlokal in der Nähe des Tatorts, in dem sich die Familien treffen, für die seit dem 19. Februar 2020 nichts mehr ist, wie es sein sollte. Angemietet wurde es nicht von einer offiziellen Stelle, sondern von linken Aktivisten, die dafür Geld im Internet sammeln.

Es wird zu dem Attentat von Hanau nie einen Prozess geben, weil der Täter sich selbst getötet hat. Die Familien der Opfer und diejenigen, die damals überlebt haben, bleiben mit ihren Fragen zurück. Mit Fragen, die quälender werden, je mehr ihre Beantwortung Voraussetzung dafür wird, mit den Geschehnissen einen Umgang zu finden – und damit eines Tages irgendwie weiterzuleben zu können.

Alles das lässt die Tat von Hanau aussehen wie ein privates Problem der Angehörigen. Das ist sie aber nicht. Sie ist ebenso das Problem des ganzen Landes, der ganzen Gesellschaft. Sie rührt an die Frage, was hierzulande möglich ist, und wie mit dem, was passiert, umgegangen wird.

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Neun junge Menschen sind tot

Warum setzen sich vor ein paar Tagen erst Mütter, Väter, Geschwister, Cousins, Freunde von Toten vor eine Kamera und lesen die Ungereimtheiten vor, die sich für sie aus der Tatnacht ergeben? Warum laufen mit diesen Fragen nicht die Verantwortlichen herum? Wollen denn nicht alle wissen, warum ein Mann, der psychisch krank ist, eine Waffenbesitzkarte haben darf? Oder warum Notrufe nicht angenommen werden?

Wollen nicht alle wissen, ob tatsächlich Opfer von Verbrechen obduziert werden, ohne dass man als Angehöriger dazu gefragt wird, und man bekommt irgendwann einen zusammengeflickten Leichnam zu sehen, aber nur, wenn man nicht lockerlässt? Wollen nicht alle wissen, was sich offizielle Stellen herausnehmen? Wie menschenfeindlich es hier zugehen kann? Gerade dann, wenn man in Not ist?

Man ist in Deutschland relativ schnell bereit, zu nicken, wenn von strukturellem Rassismus die Rede ist, fast, als nehme man den Vorwurf der Einfachheit halber hin. Aber damit kann es nicht getan sein. Der Anschlag von 19. Februar 2020 ist einer der schwersten rechtsextremen Anschläge, die es seit 1945 auf deutschem Boden gab. Neun Menschen, alles junge Leute, sind tot. Sie hatten ausländische Wurzeln und ausländische Namen.

Die Tat hätte in Mark und Bein fahren müssen

Es war ein Ausbruch sondergleichen an rassistischem Hass und hätte dem Land, das so pathetisch „Nie wieder“ rufen kann, in Mark und Bein fahren müssen. Es war auch schnell – pflichtschuldig? - von Zäsur die Rede, aber woran wollte man die festmachen? Stattdessen kam Corona und nahm die Aufmerksamkeit mit, die gern zu folgen schien.

Dabei ist es wichtig, endlich dafür zu sorgen, dass Behörden, und zwar alle, gegen Rechtsextremismus zusammenarbeiten. Und dass bei Attentaten und Anschlägen klar ist, wie mit Geschädigten, Verletzten, Angehörigen von Toten mitfühlend umzugehen ist. Was das Mindeste ist und doch ausbleibt. Das erlebten Angehörige auch schon nach der NSU-Mordserie und nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz.

Es braucht Anleitung für einen empathischen Umgang mit den Angehörigen

Dass die einzelnen Beamten in solchen Ausnahmesituationen selbst überfordert sein können, will ihnen niemand absprechen. Aber es muss dafür gesorgt sein, dass sie nicht vergessen, dass das alles für die Verletzten und die Angehörigen eine noch viel größere Überforderung und noch sehr viel schlimmer ist. Es braucht klare Handreichungen für behördliches Agieren bei Terrorfällen bis hin zur Schaffung von Möglichkeiten, auch bei toten Tätern quasi prozessähnlich für Aufklärung zu sorgen.

Die Bildungsinitiative, die in Hanau geschaffen wurde, hat eine Devise. Die lautet: Wir wollen das Problem lösen, nicht die Schuldfrage. Das ist eine noble und großzügige Haltung. Mit der hat Serpil Unvar, Mutter des am 19. Februar 2020 von einem deutschen Rassisten ermordeten Ferhat Unvar, dem Land, in dem sie seit mehr als 25 Jahren lebt, viel voraus.

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