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Europa im Sturm. EU-Kommissionschef Juncker stößt die Debatte über die Zukunft der Gemeinschaft an.

© Carsten Rehder/dpa

Zukunftsdebatte der EU: Ein Europa für Pioniere

EU-Kommissionschef Juncker hat einen Anstoß für die Debatte zur Zukunft der EU gegeben. Noch steht die Diskussion am Anfang - aber ein "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" ist sinnvoll. Ein Kommentar.

In seiner Autobiografie hat der frühere britische Premierminister Tony Blair eine Anekdote ausgeplaudert, die sehr viel über Europa aussagt. Bei einem Treffen der sieben wichtigsten Industriestaaten und Russlands saß Blair einmal neben George W. Bush. Der damalige US-Präsident raunte ihm zu, dass er den Mann dort am Konferenztisch gar nicht kenne, der sich da so wortreich äußere. Blair klärte Bush darüber auf, dass es sich bei dem Redner um den belgischen Premierminister handele, und dass der mit am Tisch der Mächtigen sitzen dürfe, weil sein Land – obschon recht klein – derzeit den EU-Vorsitz innehabe.

Europa mit seinen komplexen Institutionen ist schwer zu verstehen, nicht nur für Amerikaner. Auch EU-Bürger haben gelegentlich Probleme, den Überblick zu behalten. In der EU gibt es einen Kommissionschef (der Luxemburger Jean-Claude Juncker), einen Chef der Mitgliedstaaten (der Pole Donald Tusk) und einen Chef des rotierenden EU-Vorsitzes (gegenwärtig Maltas Regierungschef Joseph Muscat).

Linien, Kreise und Ellipsen

Am Mittwoch hat Juncker ein Weißbuch zur Zukunft der EU vorgestellt, das einem noch zusätzlich den Kopf schwirren lässt. Nach den darin skizzierten Vorstellungen erscheint die Europa-Karte der demnächst 27 EU-Staaten (ohne Großbritannien) wie ein unübersichtliches Geflecht aus Linien, Kreisen und Ellipsen.

Juncker verzichtet bewusst auf einen Masterplan

Die Ideen für die Zukunft Europas sind kein Masterplan für die EU der nächsten zehn Jahre – und sollen das auch gar nicht sein. Bewusst hat der Kommissionschef mehrere Optionen vorgestellt. Das macht das Ganze zwar erst einmal etwas unübersichtlich, hilft aber jenen, die ganz unterschiedliche Erwartungen an die EU haben. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán sieht die EU etwa in erster Linie als einen Binnenmarkt. Andere wie Kanzlerin Angela Merkel wollen hingegen mehr Zusammenarbeit mit den EU-Partnern bei der Terrorbekämpfung sowie bei der Flüchtlings-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Nun ist Juncker nicht der Erste, der sich mit Vorschlägen wie einer EU der „konzentrischen Kreise“ auseinandersetzt. Die gehen von der Überlegung aus, dass nicht alle EU-Staaten gleichermaßen eng miteinander verwoben sein müssen. Inzwischen hat sich aber der Druck erhöht, Europa tatsächlich neu zu gestalten. Der Brexit, das Versagen der Gemeinschaft in der Flüchtlingspolitik oder die zunehmenden Sabotageversuche aus einzelnen EU-Mitgliedstaaten gegenüber einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik: All diese Entwicklungen zeigen, dass eine engere Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten jenseits der Währungsunion und des Schengen-Raums künftig unumgänglich ist, wenn Europa nicht bedeutungslos werden will.

Eine Brücke für Polen

Eine EU der „verschiedenen Geschwindigkeiten“, wie sie Merkel vorschwebt, dürfte dabei in der Debatte noch eine entscheidende Rolle spielen. Denn diese Idee könnten auch Staaten wie dem Polen von Jaroslaw Kaczynski, das sich mit der EU schwertut, eine Brücke bauen. In einem solchen Europa könnte sich Warschau etwa bei der Flüchtlingsverteilung ausklinken, aber bei der EU-Verteidigungspolitik dabei sein.

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