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Die glorreichen Sieben: Ehemalige Weltenlenker kämpfen gegen Atomwaffen

Einst waren sie Weltenlenker, heute sagen sie: "Wir haben kein Mandat, aber Einfluss." Den nutzen sie für eine gemeinsame Vision – eine Welt ohne Atomwaffen.

Egon Bahr ist nicht gekommen. Der Berliner, dessen Stimme heute noch so eindringlich klingt wie vor fast einem halben Jahrhundert bei seiner programmatischen Rede über die Notwendigkeit des „Wandel durch Annäherung“, hat sich erkältet. Wenn man 87 ist, soll man mit so etwas nicht spaßen. Die anderen seiner Generation aber sind alle da: Hans-Dietrich Genscher, der ewige Außenminister, 82; Helmut Schmidt, der Bundeskanzler der Nachrüstungspolitik, 91; Richard von Weizsäcker, der Präsident, der den Deutschen half, den Tag der Kapitulation 1945 als Tag der Befreiung zu sehen, 89; Henry Kissinger, der als Chef des nationalen Sicherheitsrates unter Richard Nixon anfangs wieder einen härteren Kurs gegen die UdSSR einschlug, 86; der frühere US-Senator und Abrüstungsspezialist Sam Nunn, mit 71 das Küken in diesem Kreis; William Perry, Verteidigungsminister der USA von 1994 bis 1997, 82, und George Shultz, 89, unter Präsident Reagan sieben Jahre amerikanischer Außenminister. In der American Academy am Berliner Wannsee haben sie sich an diesem Abend getroffen, um, wie es später ein Politiker der zweiten oder dritten Kategorie überheblich lächelnd ausdrückte, über Visionen alter Leute nachzudenken.

Diese „Vision alter Leute“ ist eine, der früher weltfremde Pazifisten und Schwarmgeister vor allem linker Couleur nachhingen: eine Welt frei vom Atomwaffen. Was bringt sieben ältere Staatsmänner einer aus der aktuellen Tagespolitik längst abgetretenen Generation dazu, sich für ein solch philantropisches und aus Sicht der auf ihren Mangel an Fantasie stolzen Realpolitiker geradezu spinnertes Thema einzusetzen? Pressekonferenzen zu geben, Appelle zu veröffentlichen, jetzt bei der Münchner Sicherheitskonferenz aufzutreten?

Nennen wir es die Sorge um unsere Welt, um gleich einmal in eine höhere Schublade zu greifen. Die sieben haben nämlich Angst, und wenn sie, die zupackenden und keiner Schwäche verdächtigen Schicksalslenker von einst, aus dieser Angst kein Hehl machen, dann hört man ihnen auch zu. Es ist nämlich eine Angst, die jeder haben muss, dessen Horizont etwas weiter als bis zur nächsten Molle und bis zu Cindy aus Marzahn und DSDS reicht: die Angst vor dem durchgeknallten Terroristen, dem skrupellosen Verbrecher oder jenem menschenverachtenden Diktator, der eines nahen Tages „die Bombe“ zündet.

In einer Welt, die keine Möglichkeit gefunden hat, die Weiterverbreitung von nuklearem Material auch nur zu kontrollieren, geschweige denn zu stoppen, in der es 40 Staaten gibt, denen man die Fertigkeit zum Bau der Bombe zutraut und Länder wie den Iran, dessen Führung unverhohlen mit dem Gedanken spielt, nach dem A auch B zu sagen, ist Angst also kein unangemessenes Gefühl, und man sollte den sieben dankbar sein, dass sie artikulieren, wozu mancher wichtigtuerische Politiker glaubt, zu cool sein zu müssen.

Es sind berührende und anrührende 90 Minuten. Da gibt es keine Eitelkeiten, kein Auftrumpfen, kein Dominierenwollen. Manchmal wirken die Diskutanten, wenn sie einander mit geschlossenen Augen zuhören, wie entrückt. Aber das täuscht, ist wie eine Art Stand-by-Schaltung eines in Wahrheit hochwachen Verstandes. Im Moment der Ansprache öffnen sich die Augen, strafft sich der Körper, reden alle – auch Genscher, ja, und ob – in einem klaren Englisch, bei dem schon die präzise Artikulation signalisiert, dass es sich empfiehlt, zuzuhören und aufzupassen. „Wir haben kein Mandat, aber Einfluss auf unsere Regierungen“, beschreibt Weizsäcker die Rolle der sieben.

Die Initiative, für die sie werben, gibt es seit dem 4. Januar 2007. An diesem Tag veröffentlichten die vier Amerikaner im Wall Street Journal ihre Forderung nach einer Welt frei von Atomwaffen. Mit Blick auf Korea und Iran sahen sie die Welt „an der Schwelle einer neuen und gefährlichen atomaren Ära“. In Deutschland griffen Weizsäcker, Bahr, Schmidt und Genscher diesen Appell auf, der frühere Außenminister warb in seiner Tagesspiegel-Kolumne immer wieder dafür: „Die Atommächte müssen endlich abrüsten.“

Erst als Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden war, bekam das Drängen der großen Alten den Segen der politisch Aktiven. Bereits bei der Münchner Sicherheitskonferenz des Vorjahres war die „Nuclear Threat Initiative“, die NTI, gesetztes Thema und wird es an diesem Wochenende wieder sein, auf der „Ischinger-Konferenz“, wie Weizsäcker die Tagung freundlich apostrophierte. Der war natürlich auch da in der American Academy, Wolfgang Ischinger, wie Jürgen Chrobog ebenfalls einst deutscher Botschafter in den USA. Die Bundesminister Schäuble und Guttenberg sind erschienen, die sozialdemokratischen Amerikaspezialisten Karsten Voigt und Hans-Ulrich Klose, die Ex-Generäle Klaus Naumann und Jörg Schönbohm, der mit der Integration der NVA in die Bundeswehr seine ganz persönlichen Abrüstungserfahrungen gemacht hat, John Kornblum, einst Amerikas Statthalter in Berlin und später Botschafter, die diplomatischen Vertreter Israels und Polens. So viel Volk kommt nicht bei einem unwichtigen Thema, das war das eine Signal. Das andere: Es war ein historisches Ereignis. Allein, dass diese sieben Männer da nebeneinander saßen, 590 Jahre geballte Lebenserfahrung, wird es so oft nicht mehr geben.

Diese Lebenserfahrung sagt den sieben, dass man Russland einbinden muss in die weltweiten Abrüstungsbemühungen. Genscher memoriert, der russische Präsident Dmitri Medwedew habe vor vielen Wochen eine internationale Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis nach Vancouver, also rund um den Globus, gefordert, aber der Westen habe bislang keine Antwort darauf gefunden. Wie es mit Russland weitergeht, würde auch Sam Nunn gerne erfahren, den die Frage umtreibt, ob die Russen überhaupt noch wissen, wie viele Atombomben sie haben – und ob sie noch alle besitzen, anders gefragt: wie viele wohl längst gestohlen seien? Kissinger benennt denn auch drängend die unkontrollierte Weitergabe von Nuklearmaterial als größte Gefahr: „Wenn erst einmal 100 000 Menschen an einem Tag getötet worden sind, wird die Welt nicht mehr die gleiche sein.“ Der ehemalige Verteidigungsminister Perry wird dieses Bild später aufgreifen und erinnert an eine Tagung, die sich vor zwei Jahren in Washington genau mit diesem Thema beschäftigte und die in der Beschwörungsformel endete: Hoffentlich wird es nie passieren ... Das Tagungsmotto hieß: The Day After.

Gibt es mehr als diese Hoffnung, dass „es“ nicht passiert? Helmut Schmidt gewinnt sie aus dem internationalen Zusammenstehen und dem koordinierten Handeln während der weltweiten Finanzkrise der vergangenen zwei Jahre. Der „Common sense“, der da bewiesen worden ist, sei ein gutes Zeichen. Sam Nunn hat auf die Frage, ob die Welt die Bombe unter Kontrolle bekommen könne, früher einmal gesagt: „Viele halten das für eine Wunschvorstellung. Ich halte es für eine Wunschvorstellung zu glauben, dass wir 20 Jahre weitermachen können, ohne eine Katastrophe zu riskieren.“

Der frühere Kanzler wird zur Vision der totalen Abrüstung an seinen alten Satz erinnert, wonach jemand, der eine Vision hat, zum Augenarzt gehen solle. Der 91-Jährige reagiert ungehalten: Das habe er ein einziges Mal gesagt, seitdem würde es tausendfach zitiert – einmal sei genug. Und George Shultz ruft den Anwesenden eine fast schon verzweifelte Hoffnung ins Gedächtnis zurück, die Henry Kissinger vor einem Jahr in München formulierte: „Wir haben den Göttern das Feuer gestohlen. Hoffentlich bekommen wir es unter Kontrolle, bevor es uns verbrennt.“

Das klingt schon fast fatalistisch. Eigentlich glauben die sieben aber an die Macht der Vernunft. Ihre Initiative gewinnt die Kraft weder aus spirituellen noch aus ethischen Überlegungen, sondern ganz banal aus einer realistischen Einschätzung. Und für eine weitsichtige Politik, so denken sie, müsse man eben immerfort und zäh werben, auch wenn man von manchen für einen alten Spinner gehalten wird.

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