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Ein Unterstützer von Donald Trump in Phoenix, Arizona.

© REUTERS/Jim Urquhart

70 Millionen Stimmen für Trump: Drei Lehren für die deutsche Politik

Der US-Präsident hat mehr Wähler gewonnen als 2016. Europa sollte gewarnt sein, denn die USA waren immer Vorreiter gesellschaftlicher Trends. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hans Monath

Wer beim Blick auf die USA immer noch den Kopf darüber schüttelt, wie viele Amerikanerinnen und Amerikaner Donald Trump die Treue halten, sollte in das Buch „Die Abwicklung“ von George Packer schauen. Schon drei Jahre vor der Wahl von Trump hatte der Journalist darin in bestechenden Porträts eine gespaltenen Nation geschildert – auf der einen Seite das fast grenzenlose Kapital der Großkonzerne, auf der anderen die Resignation vieler kleiner Leute, die sich ihr Leben lang abgerackert hatten und dann am amerikanischen Traum verzweifelt waren. Die Wut, der Trump eine Stimme gab, sie hatte und hat Ursachen.

Eine ähnlich packende Beschreibung der deutschen Gesellschaft am Beispiel von Biografien hat bislang noch niemand vorgelegt. Dabei wächst auch hier die Wut, stehen sich kulturelle und politische Lager immer unversöhnlicher gegenüber. Dabei verbreitet sich auch hier das Gefühl, dass etwas auseinanderfällt, was einmal zusammengehörte.

Es stimmt zwar, dass Deutschland von amerikanischen Zuständen noch weit entfernt scheint. Hier votierte bei der letzten Bundestagswahl nicht die Hälfte für radikale Nationalisten, sondern nur rund zwölf Prozent. Und unter dem Eindruck der Corona-Krise verlieren die Herausforderer der demokratischen Mitte Unterstützung, wie Umfragen zeigen.

Das kann aber kein Grund sein, die Amerikaner für verrückt zu erklären und sich zufrieden zurückzulehnen. Denn viele gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA vollzieht Deutschland mit Verspätung nach. Und von den Fehlern von Trumps Gegnern in den USA, die zu seiner Stärke erheblich beigetragen haben, lässt sich für den Kampf für einen liberalen Staat Wichtiges lernen.

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Unisextoiletten sind nicht wichtiger als gerechte Einkommen

Die erste Lektion lautet, dass man die Lage nicht schönreden darf, nur weil das eigene Milieu von Fehlentwicklungen nicht betroffen ist. Wenn eine urbane, kreative Mittelschicht die Globalisierung preist, von der sie profitiert, sollte sie darüber nicht vergessen, dass weniger gebildete und mobile Menschen deren Schattenseiten erleiden, auch in Form von mehr Ungleichheit. Wer sie einfach übergeht, gefährdet die offene Gesellschaft.

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Zweitens braucht es ein Gespür dafür, dass das Tempo der kulturellen Entwicklung viele überfordert. Wer nur mit der Spitze des Fortschritts kommuniziert, verweigert jenen den Respekt, die länger brauchen. Viele Reden deutscher Politiker der linken Mitte aber klingen, als könne niemand ein gelungenes Leben führen, der keine Universität besucht hat.

Die Bedeutung wirtschaftlicher Fragen zu unterschätzen ist der dritte Fehler. Solange sich viele Linke lieber mit Identitätspolitik beschäftigen als mit sozioökonomische Fragen, Unisextoiletten und Gendersternchen für wichtiger halten als Einkommens- und Vermögensverteilung, werden sie weder bald wieder eine Regierung führen noch der Macht des großen Geldes viel entgegensetzen können.

[Mehr zum Thema: Er lügt und sie jubeln - warum viele Amerikaner zum Präsidenten halten, trotz allem]

Nicht zuletzt tragen Politikerinnen und Politiker auch eine Verantwortung dafür, wie sie mit Andersdenkenden umgehen. Wenn etwa SPD-Chefin Saskia Esken stur auf der Beschimpfung von Corona-Skeptikern als „Covidioten“ besteht, verkennt sie, welche Möglichkeiten der Politik sie mit der Verächtlichmachung verspielt.

Leider ist Eskens Irrtum im fortschrittlichen Lager weit verbreitet. Auch beim Thema Migration oder in Geschlechterfragen gilt dort schnell als dumm und bösartig, wer die eigene, feste Meinung nicht teilt. Dabei lebt die Demokratie von der Annahme, dass jeder sein politisches Urteil auch wieder ändern kann.

Der US-Philosophen Michael J. Sandel hat die Warnung formuliert: Eliten, die den unteren Klassen das Gefühl vermitteln, dass sie auch noch kulturell auf sie herabblicken, sorgen selbst dafür, dass die da unten die da oben irgendwann zur Rechenschaft ziehen wollen. Wenn die liberale und linke Mitte in Deutschland ihre Mehrheitsfähigkeit nicht weiter gefährden will, sollte sie deshalb die amerikanischen Lektionen gut beherzigen.

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