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Türkei: Drakonische Strafen für kleine "Terroristen"

Ein drastisches Anti-Terrorgesetz hat in der Türkei allein im vergangenen Jahr fast 200 Kinder und Jugendliche ins Gefängnis gebracht. Nun plant die Regierung eine Gesetzesänderung. Doch Menschenrechtler sind skeptisch.

Abdullah sagt, er sei unschuldig. Die Polizei sagt, er habe bei einer PKK-Demonstration Steine geworfen. Für die türkische Justiz ist der 14-jährige Junge damit ein Terrorist, der fast fünf Jahre ins Gefängnis soll.

Abdullah war Ende vergangenen Jahres nach einer Demonstration in der südtürkischen Stadt Adana festgenommen worden. Damals, nach dem Verbot der Kurdenpartei DTP, herrschte Aufruhr in den kurdischen Landesteilen der Türkei und in Großstädten mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil. Der Junge sagte aus, er sei auf dem Heimweg zu seinem Elternhaus zufällig am Rande der Kundgebung vorbeigekommen, bei der Steine und Brandsätze flogen und Barrikaden errichtet wurden. Polizisten nahmen Abdullah mit zur Wache, später erhob ein Staatsanwalt Anklage wegen staatsfeindlicher Unterstützung der verbotenen PKK.

Das türkische Antiterrorgesetz aus dem Jahr 2006 stuft minderjährige Steinewerfer als Terroristen ein, die ebenso hart zu bestrafen sind wie Erwachsene. Seit Inkrafttreten des Gesetzes sind rund 4000 Kinder und Jugendliche in Polizeihaft genommen worden. Allein im vergangenen Jahr verurteilten die Gericht 177 Minderjährige zu insgesamt fast 800 Jahren Haft, sagte Metin Bakkalci, der Generalsekretär der Menschenrechtsstiftung TIHV, unserer Zeitung. Menschenrechtler wie Bakkalci und auch die EU fordern eine Überarbeitung des drakonischen Gesetzes.

Doch die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zögerte lange. Sie versprach zwar mehrmals eine Reform, schreckte dann aber davor zurück. Erdogans Regierungspartei AKP befürchtete, dass mildere Strafen für kurdische Steinewerfer von der nationalistischen Opposition und einem Teil der eigenen Wählerschaft als Zugeständnis an die PKK verdammt werden würden.

So gerieten die Kinder zwischen die parteipolitischen Fronten in Ankara – mit dem Ergebnis, dass sich lange überhaupt nichts tat und dass einige minderjährige Häftlinge inzwischen im Knast aufwachsen. Wie die Zeitung „Milliyet“ kürzlich berichtete, soll ein verurteilter jugendlicher Steinwerfer von einer Gemeinschaftszelle mit anderen Minderjährigen bald in den Erwachsenentrakt seines Gefängnisses umziehen, weil er 18 Jahre alt wird. Der Teenager sitzt seit drei Jahren ein. „Inakzeptabel“ nennt Menschenrechtler Bakkalci das parteipolitische Hickhack auf dem Rücken der Kinder.

Er steht mit einer Meinung nicht allein. In jüngster Zeit wurden die Rufe nach einer Reform immer lauter, so dass Innenminister Besir Atalay sich schließlich öffentlich für eine Änderung noch vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause am 1. Juli verbürgte. In dieser Woche soll der Änderungsentwurf ins Parlament kommen, der laut AKP-Angaben die sofortige Freilassung von 300 minderjährigen Verdächtigen nach sich ziehen wird. Neben Strafnachlässen für kleine Steinewerfer sieht der Entwurf vor, dass Minderjährige künftig vor Jugendgerichte gestellt werden, und nicht mehr wie bisher vor die Staatsschutzsenate der Schwurgerichte.

Menschenrechtler Bakkalci bleibt dennoch skeptisch. Selbst wenn die Kinder künftig vom Anti-Terrorgesetz verschont blieben, gebe es im normalen Strafrecht immer noch genügend Instrumente zur langen Inhaftierung von Kindern, sagte er. „Ein Gericht kann einen Angeklagten zum Beispiel zum Mitglied einer terroristischen Vereinigung erklären, nur weil er an einer Kundgebung teilgenommen hat.“

Auch Abdullah in Adana kann nicht sicher sein, dass er der Haft entgeht. Die Staatsanwaltschaft setzte ihn für die Dauer seines Prozesses zwar auf freien Fuß. Die Polizei in Adana, die ein Abrutschen von Kindern wie Abdullah in extremistische Kreise befürchtet, setzte sich dafür ein, dass er seine Schulbildung fortsetzen konnte. Doch dann kam der Bescheid vom Gericht über eine Haftstrafe von vier Jahren und acht Monaten.

Abdullahs Familie hat Einspruch eingelegt. Die Vorwürfe seien absurd, sagte Abdullahs Vater der türkischen Presse: Eine Großmutter und eine Tante des Jungen seien 1995 von der PKK getötet worden – da werde Abdullah wohl kaum als PKK-Unterstützer Steine geworfen haben. Auch der Junge selbst versteht die Welt nicht mehr. „Wieso soll ich Steine werfen?“ fragte er türkische Reporter. „Ich will doch Polizist werden.“

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