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Die Polizei verhaftet Osipova während eines Anti-Krieg-Potests in Sankt-Petersburg.

© REUTERS/Stringer

Sie protestiert seit 20 Jahren in Russland: Diese „Oppositions-Oma“ ist eine Heldin in ihrer Heimatstadt

Berichten zufolge wurde eine Überlebende der Leningrad-Blockade festgenommen. Recherchen ergeben, dass das nicht der Fall ist. Wer aber ist die alte Dame?

Die Festnahme einer Anti-Kriegs-Demonstrantin in St. Petersburg sorgte am Mittwochabend für internationales Aufsehen. Medienberichten zufolge hatten russische Polizeibeamte angeblich eine der letzten Überlebenden der Leningrader-Blockade im Zweiten Weltkrieg abgeführt: Elena Andreevna Osipova.

Eine Tagesspiegel-Recherche hat nun ergeben, dass Osipova im November 1945 geboren wurde – fast zwei Jahre nach dem Ende der Belagerung. Grundlage der Recherche sind mehrere Porträts und Interviews mit der Protestlerin, die in den vergangenen Jahren in verschiedenen russischen und englischsprachigen Medien erschienen sind.

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Dass es sich bei der festgenommenen Frau um Elena Andreevna Osipova handelt, bestätigt ein Post im russischen Netzwerk VK. Die 77-Jährige hatte ein Bild ihrer Plakate, die auch im Twitter-Video der Festnahme sichtbar sind, zuvor auf ihrem Profil hochgeladen.

Das sind Osipovas Plakate von der Anti-Kriegs-Demo

© VK / Jelene Osipova

Elena Andreevna gilt in ihrer Heimatstadt dennoch als Legende. Nicht, weil sie die Leningrader-Blockade vermeintlich überlebte. Sondern weil sie seit 20 Jahren mit kunstvollen Plakaten gegen Krieg, Gewalt und Machtmissbrauch protestiert. Ein Porträt des “Gewissens von St. Petersburg”.

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Wie Osipova zu einer politischen Künstlerin wurde

Bescheidene Möbel, abbröckelnder Putz und überall stapelweise Kunst. So beschrieb das russische Medium “Priter.tv” die Wohnverhältnisse von Osipova bei einem Besuch im September 2021. Die 77-Jährige lebt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in St. Petersburg – dieselbe Wohnung, in der ihre Verwandten den Zweiten Weltkrieg überlebten. Dieselbe Wohnung, in der Elena als Kind bei Mutter und Großmutter ihre Liebe zur Kunst entdeckte.

Osipovas Mutter förderte ihr Talent und schickte sie im Jugendalter auf eine Kunstschule im historischen Zentrum von St. Petersburg. “Ich verdanke mein ganzes Leben der Kunstschule”, erzählte Osipova "Piter.tv".

Nach dem Studium arbeitete Elena Andreevna als Kunstlehrerin und half, drei Schulen aufzubauen. Nebenbei malte sie im Atelier des Jussupow-Palasts und bekam einen Sohn. “Es war die beste Zeit meines Lebens.” Über 35 Jahre lang lebte sie ihren Beruf aus.

Elena Osipova bei einem Prostest am Mars-Feld in Sankt-Petersburg.

© VK / Jelene Osipova

Im Oktober 2002 dann der Wechsel. Die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater löste etwas in Osipova aus. “Ich habe so stark auf das Geschehene reagiert, dass ich nicht wusste, wie ich es ausdrücken sollte”, erzählte die Künstlerin “Priter.tv”. “Ich arbeite oft nachts, und um 6 Uhr morgens sah ich die Nachrichten über die Geiselnahme im Fernsehen. Ich war so schockiert, dass sie aus verschiedenen Blickwinkeln gefilmt haben und uns alles gezeigt wurde.”

Kunst als Ventil

Ihr Schock verwandelte sich in Aktivismus, ihre Kunst in ein Ventil. Die damals 56-Jährige schrieb auf ein Plakat “Herr Präsident, ändern Sie dringend den Weg" und zog damit auf die Straße - alleine.

“Zuerst stand ich mit einem Plakat in der Nähe einer U-Bahn-Station. Die Leute kamen auf mich zu, einige spuckten mir fast ins Gesicht. Dann ging ich zum Mariinsky-Palast. Die Abgeordneten kamen heraus und, nun ja, sie redeten nur Unsinn. Ich stand sehr lange dort und niemand kam mehr in meine Nähe.”

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Osipova gab aber nicht auf. Nach der Geiselnahme von Beslan im September 2004 und dem Beginn des Krieges im Iraq ging sie auf weitere Solo-Streikposten. “Glaubt nicht an die Gerechtigkeit des Krieges!” stand damals auf ihrem Plakat. In den darauffolgenden Jahren übte sie immer wieder Kritik an Putins Regierung und protestierte gegen Drogen, Ungerechtigkeit, politische Verfolgung und Rassismus.

Mit dem Plakat fordet Osipova Putin auf, die Verantwortung für Beslan zu übernehmen.

© VK / Jelene Osipova

Mit der Zeit tauchten immer mehr Demonstranten in St. Petersburg auf. Während des Ukraine-Konflikts 2014 zog Osipova nicht alleine durch die Stadt, sondern als Teil eines größeren Protestzugs. In einem Interview aus 2015 mit dem englischsprachigen russischen Medium “The Russian Reader” erinnert sich die Künstlerin: “Du spürst, dass du mit deinen Gedanken nicht allein bist, dass es andere Menschen gibt, die genauso denken. Vielleicht sind es nicht so viele, aber es gibt sie."

[Eine aktuelle Karte der russischen Invasion der Ukraine finden Sie an dieser Stelle.]

Festnahmen gehören in Russland zum Aktivismus

Ohne Risiko sind die Protestaktionen nicht. Elenas Poster werden oft gestohlen, zerrissen oder von der Polizei beschlagnahmt. Sie erhält Drohungen von Andersdenkenden. Wie die ehemalige US-Radiosendung “Free Speech Radio News” 2014 berichtete, wurde die Aktivistin bei einer Ukraine-Demonstration einmal mit menschlichem Exkret beworfen.

"Wir sind alle Gefangene der imperialistischen Provokationspolitik" schreibt Osipova auf ihrem Plakat.

© VK / Jelene Osipova

Auch die Polizei geht gegen Osipova vor. “Ich wurde schon öfters festgenommen”, sagte die Aktivistin gegenüber "The Russian Reader". “Manchmal ganz schön grob.”

Bisher ist die Künstlerin mit Geldstrafen davongekommen. Die Protestlerin wirkt jedoch unbeeindruckt. “Die höchste Geldstrafe, die ich erhalten habe, war 5000 Rubel (umgerechnet etwa 45 Euro). Menschen haben online für mich Geld gesammelt, später habe ich das Geld den Gefangenen aus dem Bolotnaja-Prozess geschickt”.

Ein "heiliger Narr"

Wie es der Demonstrantin nach ihrer jüngsten Festnahme geht, ist derzeit nicht bekannt. Eins ist aber klar: 20 Jahre nach ihrem ersten Solo-Protest gilt Elena Andreevna in ihrer Heimatstadt als Heldin. Sie ist die “Oppositions-Oma", wie Gleichgesinnte sie nennen.

Die Aufmerksamkeit nimmt die Künstlerin bescheiden entgegen. “Im Grunde bin ich nur eine Randfigur”, sagte Osipova in einem Porträt des russischen Mediums “Paper”. Sie verglich sich mit einem “heiligen Narren”, wie es sie früher in Russland gab. “Ich gehe immer noch herum, um etwas sagen zu können - um mich zu erinnern.”

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