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Frauen sind die großen Verlierer des Abzugs des Westens.

© Ebrahim Noroozi/AP/dpa

Neue Bücher zu Afghanistan: Die Vergessenen vom Hindukusch

Afghanistan? Die Nachrichten aus dem geschundenen Land sind rar geworden. Vier Neuerscheinungen zeigen aber: Das Schicksal des Landes geht auch uns an.

Afghanistan ist verschwunden. Nicht von der Landkarte, sondern aus dem Bewusstsein des Westens. Vergessen all das Leid, die Kämpfe, die Toten und die Milliarden Dollar. Verdrängt die Menschen und ihre Schicksale. Spätestens mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist das Land, in dem so gut wie nie etwas gut war und das uns so fremd blieb, ein Opfer der Aufmerksamkeitsökonomie geworden.

Schlimm, was in Afghanistan vor sich geht, keine Frage. Diese Unterdrückung durch die freiheitsraubenden islamistischen Taliban. Aber muss uns die Not und das Sterben in der europäisch geprägten Ukraine nicht viel mehr umtreiben als die notorischen Abgründe im asiatischen „Hort der Finsternis“?

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So könnte man argumentieren. Nur wäre es nicht aufrichtig. Zwei Jahrzehnte lang hat die Welt, hat der vielbeschworene Westen mit den USA an der Spitze sehr viel investiert, um der Bergregion am Hindukusch ein wenig Wohlstand und ein bisschen Demokratie zu bringen. Dieser Einsatz soll jetzt nichts mehr zählen? Alles ein lästiges Zwischenspiel? Das offenkundig unregierbare Land am besten sich selbst überlassen?

Kein Plan, keine Idee - nur der Wunsch, den Terror zu bekämpfen

Aus einer derartigen Haltung spricht allerdings jene Arroganz und Ignoranz, die der Westen schon zu Beginn seines vermeintlich uneigennützigen Engagements an den Tag legte. Zu keinem Zeitpunkt gab es eine Idee oder gar einen Plan, was sinnvoll zu tun sei, außer den Terror und dessen Fürsten Osama bin Laden zu bekämpfen.

So konnte für die Supermacht Amerika und ihre Verbündeten am Ende nicht mehr stehen als ein schmachvoller, ja peinlicher Abzug – und für viele Afghaninnen und Afghanen eine herbe Enttäuschung.

Den USA ist es so ergangen wie anderen Weltmächten. Auch das British Empire und die Sowjetunion schickten ihre Armeen nach Afghanistan und zogen zermürbt von verlustreichen Gefechten wieder ab. Die Geschichte des Landes ist eine Geschichte fremder Mächte.

Und eine Abfolge von Kriegen und Gewalt, schreibt der „FAZ“-Journalist Rainer Hermann in seinem Buch „Afghanistan verstehen“. Und die Geschichte des Scheiterns ausländischer Kräfte, muss nach der Lektüre seiner kompakten Übersicht hinzugefügt werden.

Von einer Nation kann ebenfalls nicht die Rede sein. Afghanistan ist ein in vielerlei Hinsicht zerklüftetes Land: geografisch, gesellschaftlich, ethnisch und religiös. Sprache, Glauben, Loyalitäten, Wertvorstellungen: Fast jedes Tal und jedes Dorf fühlt sich seiner eigenen Tradition verpflichtet. Keine Zentralregierung oder Besatzungsmacht war bisher in der Lage, etwas Einigendes zu schaffen. Allen misslang es, die Clanchefs und Warlords unter Kontrolle zu bringen.

Nachdem die Taliban am 15. August 2021 die Macht übernommen hatten, wollten viele Menschen rasch das Land verlassen.

© dpa

Wer sich mit der die Gegenwart prägenden Vergangenheit des Landes vertraut machen möchte, sollte zu Conrad Schetters sehr detailreicher Einführung greifen. Auf 175 Seiten spannt der Bonner Professor für Friedens- und Konfliktforschung in seiner „Kleinen Geschichte Afghanistans“ einen Bogen vom 6. Jahrhundert vor Christus bis in die Gegenwart – eine Zeit, fast ausschließlich geprägt von Rebellionen, Umstürzen und Gewalt.

Wird das so weitergehen unter den derzeitigen Herrschern? Im August vergangenen Jahres haben die Taliban wieder die Macht übernommen und rasch jeden Widerstand gebrochen. Es war ein Siegeszug, der fast wie ein militärischer Spaziergang wirkte.

Derzeit sind es allein die Dschihadisten des „Islamischen Staats“, die das Machtmonopol der Taliban mit Anschlägen infrage stellen. Es wirkt wie ein schrecklicher Konkurrenzkampf unter den radikalen Islamisten. Doch es sieht nicht danach aus, dass die heutigen Herren des Landes ernsthafte Gegenwehr fürchten müssen.

Die Islamisten haben sich geduldig auf den Tag der Machtübernahme vorbereitet

Die Taliban konnten sich jahrelang geduldig auf den Tag X vorbereiten. Nun haben sie wie wieder das Sagen und erneut die Scharia eingeführt, so wie schon zwischen 1996 und 2001, bevor sie von den Amerikanern gestürzt wurden. Viel wird seit der Einnahme Kabuls am 15. August 2021 darüber spekuliert, wer die afghanischen Gotteskrieger heute sind und was sie vorhaben.

Einige Beobachter geben sich der Hoffnung hin, die Taliban 2.0 könnten gemäßigter vorgehen und dem Volk zumindest etwas Freiheit gewähren. Die vergangenen Monate dürften diese Optimisten allerdings eines Besseren belehrt haben. Nichts spricht für ein menschenfreundlicheres Regime. Auch wenn die neue, junge Generation der Taliban tief gespalten scheint, wenn es um Bildung und Strenge beim Befolgen religiöser Pflichten geht.

Die Hardliner unter den Taliban wollen den Dschihad fortsetzen

Das zumindest glaubt Ahmed Rashid, sicherlich einer der besten Kenner der Guerillatruppe. Der pakistanische Journalist hat mit „Taliban - Die Macht der Gotteskrieger“ bereits vor Jahren ein beeindruckendes Standardwerk verfasst, das jetzt in einer aktualisierten Neuausgabe erschienen ist.

Seiner Beobachtung nach gibt es auf der einen Seite jene Taliban, die im pakistanischen Exil in den vielen Koranschulen ausgebildet wurden. Diese seien politisch etwas flexibler, vielleicht auch geschickter im Vorgehen.

Die Islamisten beherrschen das Land. Sie haben jeden Widerstand gebrochen.

© Hoshang Hashimi/AFP

Auf der anderen Seite stehen junge Männer, die mit nichts anderem als Waffen und Krieg aufgewachsen sind. Diese Hardliner-Taliban verabscheuen Kompromisse und bestehen darauf, den Dschihad fortzusetzen. Sie fordern eine härtere Gangart. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass viele Afghanen Bevormundung, Freiheitsentzug und Repression sogar hinnehmen werden. Denn nach Jahrzehnten des Kriegs wollen sie vor allem eines: Ruhe.

Doch egal, ob „moderat“ oder fanatisch: Die vom pakistanischen Geheimdienst aus- und aufgerüsteten Taliban haben mit dem Wohl des Volkes nichts im Sinn. Die paschtunischen Kämpfer fordern Gehorsam und predigen einen Steinzeit-Islam. Leidtragende sind all jene, zu deren Lasten diese extremistische Interpretation des Korans geht.

Das sind an erster Stelle Mädchen und Frauen. Ihnen, ihren Nöten und zerstörten Hoffnungen, aber auch ihrem Kampf für mehr Selbstbestimmung ist Natalie Amiris Buch „Afghanistan – Unbesiegbarer Verlierer“ gewidmet. Die ARD-Journalistin hat 100 Tage nach der Machtübernahme der Taliban Afghanistan bereist. Sie hörte zu und schaute hin.

Die Frauen haben ihr Recht auf Selbstbestimmung verloren

Herausgekommen ist eine lesenswerte Reportage aus dem Vielvölkerstaat, die viel Atmosphäre vermittelt. Denn Amiri lässt die Menschen zu Wort kommen. Einfache Leute, Aktivistinnen und Aktivisten, Politiker und eben Frauen.

Frauen wie Sahar Ahmadi, die genau am 15. August 2021 ein Restaurant in Kabul eröffnen wollte, heute im italienischen Exil lebt und gerne in ihre Heimat zurückkehren würde. Frauen, die das Recht auf Selbstbestimmung verloren haben. Frauen, die sich wieder vollständig mit einer Burka verhüllen müssen. Frauen, die vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sind. Frauen, die nach Überzeugung der männerbündischen Taliban nichts wert sind.

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Aber Amiri gibt auch Frauen wie Mahbouba Seray eine Stimme, die ihren ganzen Zorn den Bärtigen entgegenschleudert: „Ihr könnt uns 19 Millionen Frauen, die wir hier nun mal sind, nicht loswerden. Was wollt ihr machen? Uns alle töten? Unsere Köpfe abschneiden? (…) Uns wegsperren? Das wird nicht passieren!“ Das klingt trotzig, aber zugleich verzweifelt. Die Frauen am Hindukusch, sie sind die großen Verlierer des überstürzten Abzugs des Westens.

Wie so viele Afghanen. Denn das Land leidet nicht nur unter seinen Herrschern, sondern auch unter großer Armut. Fast die Hälfte der 40 Millionen Menschen hungert. Für mehr als eine Million Kinder ist die Lage bereits lebensbedrohlich.

Fast die Hälfte der Aghaninnen und Afghanen leidet Hunger.

© picture alliance/AP/Petros Giannakouris

Anhaltende Dürre und eine katastrophale Wirtschaftskrise verschärfen die Not. Ebenso wie durch den Krieg in der Ukraine fehlende Getreidelieferungen. Es ist also überfällig, dass der Westen hinschaut, sich wieder engagiert, dem Land wirklich zur Hilfe eilt. Zumindest das sind wir Afghanistan schuldig. Denn wir haben die Menschen mit ihren Hoffnungen auf ein anderes Leben im Stich gelassen.

Natalie Amiri: Afghanistan. Unbesiegbarer Verlierer. Aufbau, Berlin 2022, 255 Seiten, 22 €.; Conrad Schetter: Kleine Geschichte Afghanistans. C.H.Beck, München 2022, 175 Seiten, 14,95 €.; Rainer Hermann: Afghanistan verstehen. Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft. Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 224 Seiten, 12 €.; Ahmed Rashid: Taliban. Die Macht der afghanischen Gotteskrieger. C.H.Beck, München 2022, 491 Seiten, 16,95 €.

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