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Ein Richter am Bundesverfassungsgericht (Archivbild).

© Imago/Stockhoff

Karlsruhe verhandelt das Wahlrecht: Eine Klage – gegen den Willen der Kläger

Ist das schon bald nicht mehr geltende Wahlrecht verfassungskonform? Darüber beraten die höchsten Richter – ausgerechnet gegen den Willen der Kläger. Was ist da passiert? Worauf könnte das Gericht zielen?

Es ist ein ungewöhnlicher, fast schon bizarrer Vorgang. Am Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht eine Klage, die ein Gesetz betrifft, das demnächst nicht mehr gilt. Zudem wünschen die Kläger gar nicht mehr, dass es zu einer Entscheidung kommt.

Aber der Zweite Senat hat anders entschieden. Die Richter wollen in einer mündlichen Verhandlung klären, ob das von der einstigen schwarz-roten Koalition durchgesetzte Wahlgesetz, das zur Bundestagswahl 2021 galt, nun aber mit der Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition abgelöst wird, gegen das Grundgesetz verstößt oder nicht.

Gegen das Gesetz hatten 2021 die damaligen Oppositionsfraktionen der Grünen, der Linken und der FDP geklagt. Die Ende März gelieferte Begründung, sich nun über deren Wunsch nach Aussetzung des Verfahrens hinwegzusetzen, war bemerkenswert: „Ist das Verfahren durch den Antrag in Gang gesetzt, kommt es für dessen weiteren Verlauf nicht mehr auf die Anträge und Anregungen des Antragstellers, sondern ausschließlich auf Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses an.“  

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Ein Verfahren nach dem anderen

Grüne und FDP sitzen mittlerweile in der Regierung und haben das neue Recht mitbeschlossen. Sie haben kein Interesse mehr an dem Verfahren. Doch droht schon wieder ein neues – gegen das Ampel-Wahlgesetz. Die Union will es, sobald es im Gesetzblatt steht, ebenfalls in Karlsruhe anfechten. Das Gestreite geht also weiter.

Kann es sein, dass die Klage, die nun am Dienstag verhandelt wird, aus Sicht des Gerichts mit der möglichen späteren Klage zusammenhängt? Immerhin fiel die Entscheidung zur mündlichen Verhandlung Anfang März, als weitgehend klar war, in welche Richtung das neue Wahlgesetz gehen würde – und sich die Union praktisch schon zur Klage entschlossen hatte. Will der Senat vielleicht jetzt schon im ersten Verfahren entscheiden, was dann für das zweite Verfahren (so es tatsächlich kommt) angewendet werden könnte?

Ob die Karlsruher Richter das alte Wahlrecht tatsächlich als verfassungswidrig einstufen, ist unklar. Den Antrag auf einstweilige Anordnung haben sie 2021 abgelehnt – krass grundgesetzwidrig kann das Gesetz also nicht gewesen sein. Schon damals fand sich ein bemerkenswerter Satz in der Begründung: Es sei „unabhängig vom Vortrag der Antragstellerinnen und Antragsteller“ klärungsbedürftig, ob das Gesetz den verfassungsrechtlichen Anforderungen „insbesondere an die Klarheit und Verständlichkeit der Rechtsnormen“ genüge.

Hat sich der Senat also schon damals vorgenommen, etwas sehr Grundsätzliches zum Wahlrecht festzustellen? Man könnte es fast meinen, wenn man sich die Verhandlungsgliederung für den aktuellen Gerichtstermin am Dienstag anschaut. Dort fallen vor allem zwei sehr grundsätzlich klingende Anliegen auf.

Das Gericht stellt nun die Frage, ob es ein „eigenständiges Gebot der Normenklarheit im Wahlrecht“ gebe. Und ob dieses Prinzip im Grundgesetz verortet ist. Ein solches Prinzip der Klarheit und Verständlichkeit des Gesetzes (und damit auch des Wahlsystems) ließe sich aus dem Demokratieprinzip und den Wahlrechtsgrundsätzen des Artikels 38 herleiten, wonach die Abgeordneten des Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden müssen.

Verhältniswahl? Mehrheitswahl?

Das kann für das Ampel-Wahlrecht Bedeutung gewinnen. Denn zu den Kritikpunkten daran (und den möglichen Klagegründen) gehört, dass den Wählern möglicherweise nicht klar ist, dass SPD, Grüne und FDP mit der Reform einerseits einen Systemwechsel hin zur reinen Verhältniswahl verbinden, andererseits aber am Verfahren der Mehrheitswahl in Wahlkreisen festhalten.

Es ist ein verfassungsrechtliches Gebot, dass das Wahlrecht normenklar und verständlich ist.

Frank Schorkopf, Verfassungsrechtler

Denn in den meisten Fällen wird es weiterhin so sein, dass die Bewerber und Bewerberinnen mit den relativ meisten Erststimmen einen Sitz im Bundestag erringen. Nur wenn es zu Überhängen kommt, wird den schwächsten Siegern das Mandat nicht zugeteilt.

In einer kritischen Stellungnahme im Portal „Verfassungsblog“ hat der Göttinger Verfassungsrechtler Frank Schorkopf der Ampel vorgeworfen, das Gesetz simuliere den Wahlberechtigten Kontinuität, „wo sie Neues erwarten“. Er fragt, ob der Grundsatz der Normenklarheit und Verständlichkeit des Wahlrechts „durch genügenden Abstand zwischen dem bisherigen und dem neuen Wahlsystem“ gewahrt werde. Ist es das, worauf auch die Verhandlung in Karlsruhe am Dienstag zielt?

„Politisierung des Wahlrechts“

Als zweiten bemerkenswerten Punkt hat sich der Senat vorgenommen, ob es so etwas geben kann wie einen „Grundsatz der zeitlichen Stabilität des Wahlrechts“. Was soll das bedeuten? Schorkopf verweist darauf, dass der sich schon seit Jahren hinziehende Streit mittlerweile zu einer „Politisierung des Wahlrechts“ geführt habe.

Der Jurist fragt, ob eine solche Politisierung „einen Grundsatz der Stabilität des Wahlrechts“ verletzen könnte. Seine Befürchtung: „Auf eine Wahlrechtsänderung mit einfacher Mehrheit folgt nach einem Machtwechsel die nächste Änderung wieder mit einfacher Mehrheit.“ Aber kann es Karlsruhe gelingen, den Bundestag zu einem neuen Konsens zu bringen? Und ist das die Aufgabe des Gerichts?

Möglicherweise schon. Schorkopf verweist auf die Venedig-Kommission des Europarats, die mit Zustimmung Deutschlands einen Verhaltenskodex für Wahlen entwickelt hat – mit der Empfehlung, auf die Stabilität des Wahlrechts zu achten und es möglichst nur mit qualifizierter (und nicht einfacher) Mehrheit zu ändern, also auf einen breiten Konsens zu zielen. In der Frage des Verfassungsgerichts, ob es einen Grundsatz der zeitlichen Stabilität des Wahlrechts geben kann, sieht Schorkopf einen Wink aus Karlsruhe.

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