zum Hauptinhalt

Tunesien: Die unvollendete Revolution

Sie sind junge Ärzte, Anwälte und Studenten, sie haben die Revolution in Tunesien ausgelöst und das Regime verjagt. Doch von ihrem Erfolg profitieren nun andere.

Die Revolutionäre sind erschöpft. 20 junge Leute sind es, die sich an diesem Morgen, dem anbrechenden sechsten Tag nach dem Diktatorensturz, um einen großen Tisch versammelt haben. Er steht im Erdgeschoss eines Hauses in einer ruhigen Seitenstraße außerhalb des Stadtzentrums von Tunis, einem hinter schmiedeeisernen Gittern und Büschen versteckt liegenden Haus. Iskander ist da, der angehende Arzt in Jeans und Cordjacke, das Haar steht wild und ungekämmt in alle Richtungen, und er hat eigentlich nur einen Wunsch: „Eine Nacht durchschlafen.“

Iskander reibt sich die Augen, gießt sich einen Pfirsichsaft in den Plastikbecher ein. Kaffee hat er schon zu viel getrunken, und die Nerven liegen ohnehin blank. Er verbringt jede Nacht woanders, bei Freunden und Mitstreitern, damit sie auch nach der Ausgangssperre um 18 Uhr weiter Aktionen und Strategien diskutieren können. Alle sind angespannt, weil sie empfinden, was Iskander ausspricht: „Die Zeit drängt, und unsere Revolution steht auf dem Spiel.“

Ihre Revolution. Denn sie haben sie vorangebracht. Nachdem sich im Dezember 2010 der Informatiker Mohammed Bouazizi aus Protest gegen seine mangelnden Zukunftschancen selbst verbrannt und damit eine Welle von Demonstrationen ausgelöst hatte, haben Iskander und seine Vertrauten ihre Landsleute im Internet und via Facebook mit Aufrufen und mit Informationen über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte mobilisiert. Als Staatschef Zine el-Abidene Ben Ali mit seinem Klan aus dem Land floh, sahen sie, die jungen Facebook-Revolutionäre, wie die Sieger aus. Doch nun ähnelt die neue Regierung, die am Donnerstag erstmals zusammentrat, verdächtig der alten. Und mit den drei Vertretern der geduldeten Oppositionsparteien, die jetzt mit am Kabinettstisch sitzen, können die jungen Leute wenig anfangen. Damit ihre Revolution nicht stecken bleibt, sind sie jetzt hier zusammengekommen.

„Facebook reicht jetzt nicht mehr, wir müssen sichtbarer werden“, sagt Amina, die 27-jährige Französischdozentin. Der Kampf habe sich verlagert. Yosra, eine Anwältin, Mitglied der Organisation „Demokratische Frauen“ und mit 31 Jahren die Älteste am Tisch, findet, dass sie als organisierte Gruppe eine Charta bräuchten – und liest sogleich von ihrem Block einen vorbereiteten Entwurf ab, in dem auch die Solidarität mit den Palästinensern vorkommt. „Nein, kurze, knappe Forderungen müssen wir formulieren, damit unsere Stimme gehört wird“, kritisiert Amina. Es kommt die Frage auf, ob man kategorisch alle Minister des Übergangskabinetts ablehnen solle, die der alten Regierungspartei angehören, oder nur besonders verhasste? Ständig wechseln sie die Sprachen Französisch und Arabisch. Und dann ist da noch das Problem, dass sie keinen Namen für ihre Vereinigung haben. Soll das Wort „Föderation“ auftauchen, ist „Forum“ zu intellektuell?

Diese Revolution frisst ihre Kinder nicht, sie läuft ihnen davon. Während junge Tunesier wie Iskander, Yosra und Amina klären, wie sie sich organisieren wollen, jetzt, da sie sich ungehindert versammeln und zu Wort melden dürfen, ernten andere deren Früchte.

Zu ihnen gehört Ahmed Ibrahim, Generalsekretär der Ettajdid-Partei, was Erneuerung heißt. Als eine von drei Oppositionsparteien vom Ben-Ali-Regime drangsaliert, aber geduldet, bekam sie jetzt einen Ministerposten zugeteilt. Der designierte Hochschulminister steigt aus seinem Wagen, der mitten auf dem Bürgersteig vor dem kleinen Parteibüro im ersten Stock eines Wohnhauses in der Avenue de la Liberté parkt. Ganz in Ministermanier eilt der untersetzte 64-Jährige vorbei an den alten Herren, die im Parteibüro sitzen, rauchen und Nachrichten schauen. „Die Regierung steht“, ruft er ihnen zu, der Stolz ist seiner Stimme anzumerken, und schon verschwindet er hinter geschlossenen Türen mit den Parteioberen, die noch älter aussehen als er selbst und als die Männer im vorderen Teil des Büros.

Der langjährige Kommunist Ibrahim hätte sich nie träumen lassen, eines Tages Minister zu sein, denn es sind nicht die paar hundert Parteimitglieder, die ihn ins Amt gebracht haben. Auf die Frage, wie er denn mit dem noch von Ben Ali ernannten Innenminister in eine Regierung eintreten kann, winkt er ab. Für solche Überlegungen sei jetzt nicht der richtige Augenblick, er wolle den „Übergang“ organisieren.

In den Fernsehnachrichten können Ibrahim und die alten Herren verfolgen, dass viele Tunesier das anders sehen. Die Bilder zeigen die Demonstration auf der nur einen Kilometer entfernten Avenue Habib Bourgiba, dem Hauptboulevard von Tunis, an dem das Innenministerium und die Kathedrale liegen. Etwa 2000 Menschen schreien hier ihre Wut darüber hinaus, dass die bisher allmächtige Regierungspartei RCD die Macht immer noch nicht abgeben will. „Die RDC ist tot und gehört auf den Müll“, steht in weißen Buchstaben auf einem schwarzen Sperrholzsarg, den Demonstranten unter großem Beifall durch die Menge tragen. An der Fahnenstange vor dem Hotel „El Hana International“ wird eine tunesische Flagge gehisst, die Menschen stimmen die Nationalhymne an.

Weiter unten nutzen ein paar Jugendliche die abgesperrte Straße, um ungestört Skateboard zu fahren. Doch die Stimmung könnte jederzeit kippen, Hass und Rachegefühle gegenüber der bisher allmächtigen Regierungspartei entzünden sich immer wieder.

Youssef Tlili am Straßenrand ist hin und her gerissen. Der 24-jährige Student in T-Shirt und ärmelloser Daunenweste ist Mitglied von Ettajdid, gehört somit zu den wenigen jungen Leuten, die wissen, wer der Oppositionspolitiker Ahmed Ibrahim ist. Fragt man die Menschen auf der Straße nach den zwei anderen Oppositionsführern, schütteln sie meist den Kopf. Und Tlili sitzt auch mit am Tisch der Facebook-Revolutionäre, die an diesem Morgen bei der Liga für Menschenrechte Unterschlupf fanden. Staaten müssen eine Regierung haben, das wissen alle hier. Dass sie selbst dafür infrage kämen, erwägen sie nicht einmal. Das ist ihr Dilemma.

„Nur die alten Köpfe der Regierungspartei und die drei historischen Oppositionellen, das symbolisiert wenig Aufbruch“, findet Tlili. Auch die Ernennung des Bloggers Slim Amamou, der auch schon über 30 Jahre alt und nebenbei Unternehmer ist, zum Staatssekretär für Jugend und Sport beruhigt ihn nicht. „Wieso wird er nicht Minister, wenn sie wirklich auf uns hören wollen?“

Doch Tlili, der sich anders als viele schon vor der Revolution mit Politik befasst hat und weniger emotional aufgewühlt wirkt als seine Mitstreiter, sieht das Problem: „Die jungen Leute entwickeln erst langsam ein politisches Bewusstsein, sie sind eigentlich völlig unpolitisch, eigene Führer haben wir noch nicht.“ Aus diesem Grund will er aus ihrem „Forum junger Bürger“, wie sie es schließlich nennen, eher einen Think- Tank machen, der über Politik nachdenkt und informiert, als eine Partei. Die Menschen wüssten nicht, was der Senat ist, was ein Ministerpräsident macht. Bis zum Sturz Ben Alis habe Mohammed Ghannouchi, der jetzige Premierminister, in der Öffentlichkeit nie den Mund aufgemacht, sagt Youssef Tlili.

Seine Hoffnungen und die vieler Tunesier ruhen auf den Gewerkschaften. Sie sind neben der Regierungspartei die einzigen durchstrukturierten Massenorganisationen im Lande. Der neue, noch im Bau befindliche Sitz der Föderation der tunesischen Gewerkschaften, ein modernes Ensemble aus Metall und Glas mit einem Kongresszentrum und einem Versammlungsplatz von 20 000 Quadratmetern, kann es an Selbstbewusstsein durchaus aufnehmen mit der Zentrale der Regierungspartei, einem in den Himmel ragenden Hochhaus, das anders als der Sitz des Premierministers nie zu übersehen war.

Mit 600 000 Mitgliedern und einer historischen Rolle im Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich sind die Arbeiterverbände sehr angesehen. Und mächtig. So stützte sich die Revolte auf die gewerkschaftliche Infrastruktur in den Dörfern und Städten. Als jetzt bekannt wurde, wer von der alten Garde sich an der Regierung halten würde, hat die Gewerkschaftsführung unter dem Druck der Basis abermals Nein gesagt, ihre drei Kandidaten zurückgezogen und zu neuen Protesten aufgerufen.

Auch die engagierte Anwältin Yosra vom runden Tisch der Facebook-Gruppe erkennt die Rolle der Gewerkschaftler an. Doch sie ist optimistisch, dass das Volk seine Revolution, die ohne zentrale Führung und Programm auskam, auch aus eigener Kraft beenden wird. „Ich habe gerade von Kollegen gehört, dass ein verhasster Richter, der harte Urteile gegen Blogger gefällt hatte, aus dem Gerichtssaal gedrängt wurde“, erzählt sie freudig und schickt die Nachricht gleich per SMS weiter. „Die Menschen wissen genau, wer was getan hat, und lassen nicht zu, dass die einfach so weitermachen.“

Aus dem Arbeitgeberverband war zu hören, dass ihr Vorsitzender, ein enger Vertrauter der Trabelsi-Familie von Präsidentengattin Leila, im Büro geohrfeigt und dann verjagt wurde. Tief reicht die Verstrickung des Regimes in die Gesellschaft hinein. Vertreter der Regierungspartei gibt es in jeder Universität und jedem Verband. „Sie werden sich wegducken vor dem Zorn ihrer Kollegen“, ist Yosra sicher. Außerdem würden diese Zellen, die früher alles entscheiden konnten, keine Einkünfte mehr vom Staat bekommen und damit ohnehin in sich zusammenfallen.

Dann bricht Yosra auf, um die von ihr vorgeschlagene Charta des „Forums junger Bürger“ in einer kleineren Arbeitsgruppe zu überarbeiten. Amina will mit Kollegen die technische Ausrüstung besorgen, um einen eigenen Fernsehsender im Internet zu starten. Und zwei junge Ärztinnen, die sich fast entschuldigend als völlig unpolitisch vorgestellt hatten, fahren ins Krankenhaus, um Blut zu spenden. Wegen der vielen Verletzten sind die Blutkonserven knapp geworden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false