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Erdogan-Anhängerinnen feiern in Istanbul.

© AFP/Ozan Kose

Die Türkei und die EU: „Erdogan verstärkt die Kluft ganz bewusst“

Ein Wahlsieg Erdogans würde das Verhältnis von Ankara und Brüssel noch schwieriger machen, sagt der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt. Die Türkei werde sich dann noch weiter entfernen von der EU.

Herr Hardt, in der Türkei ist ein Wahlsieg von Präsident Erdogan in der zweiten Runde gut möglich. Würde das ein endgültiges Abgleiten des Landes in Richtung Autokratie besiegeln?
Selbst wenn sein Gegenkandidat Kemal Kilicdaroglu gewinnen sollte, hätte dieser es schwer. Denn im Parlament hat die Allianz um Erdogan weiter eine Mehrheit. Das würde es Kilicdaroglu unmöglich machen, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die auch dem Parlament wieder mehr Rechte verschaffen würde.

Befürchten Sie angesichts des knappen Ergebnisses im ersten Wahlgang eine weitere Polarisierung innerhalb der türkischen Bevölkerung?
Ich hoffe, dass die allermeisten Türken das Ergebnis der Stichwahl Ende Mai akzeptieren werden. Egal, wie die zweite Runde ausgeht: Die Türkinnen und Türken in der Türkei und in Deutschland werden mit dieser Regierung leben müssen.

Die Türkei ist von zentraler Bedeutung, wenn man etwa an ihre Nato-Mitgliedschaft und ihre Rolle beim Zustandekommen des Getreidedeals für die Ukraine denkt. Kann die Türkei auch einen Platz in der EU haben?
Ich fürchte, dass die weitere wirtschaftliche und politische Entwicklung die Türkei noch stärker wegführen würde von der EU, sollte Erdogan gewinnen. Die Debatte über eine EU-Vollmitgliedschaft für die Türkei wird schon seit Jahrzehnten geführt.

Erdogan erweckt seit einigen Jahren den Eindruck, dass die EU die Türkei gar nicht wolle. Er verstärkt diese Kluft ganz bewusst, weil er kein Interesse daran hat, dass sich sein Land im Fall einer Mitgliedschaft eines Tages an die rechtsstaatlichen Kriterien der EU binden müsste. Dennoch: Wir sollten die Zugbrücke nicht hochziehen. Denn gerade unter den jungen Menschen in der Türkei wird die EU als Hoffnungsträger gesehen. 

In der CDU/CSU wurde früher einmal das Konzept einer „privilegierten Partnerschaft“ zwischen EU und Türkei vertreten. Wäre das eine Lösung, wenn eine EU-Vollmitgliedschaft schon nicht denkbar ist?
Erstens käme eine „privilegierte Partnerschaft“ schon deshalb kurzfristig nicht infrage, weil es vor dem ersten Wahlgang zu massiven Einschränkungen der Opposition gekommen ist. So war die mehrheitlich kurdische HDP von einem Verbot bedroht, die Medien konnten nicht frei berichten.

Zweitens käme es grundsätzlich einer Belohnung für Erdogan gleich, wenn man seinem Land im Falle eines Wahlsieges auch noch den Status eines „privilegierten Partners“ verleihen würde. Wenn Erdogan nicht zulassen will, dass sich sein Land Richtung EU entwickelt, dann muss er dafür auch die wirtschaftlichen Konsequenzen tragen. Wenn die EU wirtschaftliche Unterstützung leistet, muss sie auch entsprechende politische Erwartungen an Ankara formulieren können.

Der Versuch Erdogans, sich zwischen den Welten zu positionieren, ist ein sehr gewagtes Spiel.

Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag

Andererseits ist auch die EU von der Türkei abhängig, wie man bei der Flüchtlingsvereinbarung von 2016 gesehen hat.
Wir können der türkischen Regierung nicht die geopolitische Situation vorwerfen, in der sie sich befindet. Dazu zählen die lange Grenze mit Syrien und die hohe Zahl der Flüchtlinge. Deshalb sollten wir nicht aus der Mitte Europas heraus wohlfeile Ratschläge zur Sicherheitspolitik geben, auch wenn ich glaube, dass das türkische Verhalten in Nordsyrien der regionalen Stabilität schadet.

Aber weder für Erdogan noch für Kilicdaroglu würde es einen Sinn ergeben, das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen. Die Türkei verdient unsere Solidarität bei der Unterbringung der Flüchtlinge. Ankara muss dabei aber auch menschenrechtliche Standards wahren.

Würden Sie bei einem Wahlsieg Erdogans weitere Erpressungsversuche des türkischen Präsidenten wie im Jahr 2020 erwarten? Damals schickte der türkische Staatschef erneut Tausende Flüchtlinge in Richtung EU.
Nach dem Ausgang der Stichwahl werden die Bundesregierung, die EU-Kommission und die übrigen EU-Länder gut beraten sein, das Gespräch mit dem neu gewählten türkischen Präsidenten zu suchen. Dabei müssen die Probleme aus der Vergangenheit offen angesprochen werden, etwa der Widerstand der Türkei gegen einen Nato-Beitritt Schwedens.

Der Versuch Erdogans, sich zwischen den Welten zu positionieren, ist ein sehr gewagtes Spiel. Man denke nur daran, dass die Türkei trotz der Nato-Mitgliedschaft in der Vergangenheit das russische Flugabwehrsystem vom Typ S-400 kaufte. Andererseits unterstützt die Türkei jetzt die Ukraine angesichts des russischen Angriffskrieges in einem weit größeren Maße, als vielen bewusst ist. Das muss man anerkennen.

Während eine mögliche Zukunft der Türkei in der EU offen ist, strebt die Ukraine Richtung Brüssel. Wann rechnen Sie mit einem EU-Beitritt der Ukraine?
Beiden Seiten ist klar, dass es dafür derzeit kein Datum geben kann, weil der Beitritt in einer weit entfernten Zukunft liegt. Es wäre aber sinnvoll, wenn die notwendigen Anpassungen der Ukraine an die EU – etwa bei der Korruptionsbekämpfung – schon weitgehend abgeschlossen sind, bevor die eigentlichen Beitrittsverhandlungen beginnen. Es geht auch um die Symbolik für die kämpfenden Ukrainerinnen und Ukrainer: Danke, dass ihr Europa verteidigt.

Auch ein möglicher Nato-Beitritt der Ukraine steht zur Debatte. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zurückhaltend mit Blick auf eine Mitgliedschaft des Landes in der Militärallianz geäußert. Welche Entscheidung sollte die Nato bei ihrem Gipfel Mitte Juli treffen?
Ausnahmslos alle Nato-Mitgliedstaaten sollten bei dem Gipfel zum Ausdruck bringen, dass es eine Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine gibt. Die Nato muss sich aber auch ihrerseits auf einen Beitritt der Ukraine vorbereiten können. Es muss sichergestellt sein, dass die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses auf seinem gesamten künftigen Territorium gewahrt wird. Nach Finnland käme mit der Ukraine erneut ein Staat hinzu, der eine lange Grenze zu Russland hat.

Was Kanzler Scholz anbelangt, so hat er beim Thema der Waffenlieferungen an die Ukraine inzwischen einen vollständigen Kurswechsel vollzogen. Das nehmen wir als Union dankbar auf, auch wenn vieles früher gegangen wäre.

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