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Die Absenkung des Wahlalters ist ein Vorschlag, wie die Repräsentanz von jungen Menschen verbessert werden kann.

© picture alliance / Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/dpa

Die nächste Generation und die Politik: „Junge Menschen interessieren sich nicht nur für Partys“

Jugendforscherin Sabine Walper über das Wahlalter, Klimagerechtigkeit für Jung und Alt und den Zuspruch der Erstwähler für die FDP.

Von Hans Monath

Sabine Walper (65) ist Psychologin und Professorin für Pädagogik. Seit 1. Oktober ist die Direktorin und Vorstandsvorsitzende des Deutschen Jugendinstituts in München, einer der größten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen in Europa.

Frau Professor Walper, wäre die Bundestagswahl anders ausgegangen, wenn nicht fast 60 Prozent aller Wahlberechtigten in diesem Jahr älter gewesen wären als 60 Jahre?

Davon ist auszugehen. Wir wissen ja aus Befragungen, wie unterschiedlich verschiedene Generationen abstimmen und wen junge Menschen als ihre politischen Vertreter ansehen. Wenn es mehr Jüngere gäbe, wären sicher Grüne und FDP noch stärker geworden als sie es heute sind. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass Deutschland demnächst von einer Kanzlerin oder einem Kanzler der Grünen oder der Liberalen regiert würde, wenn wir eine jüngere Wählerschaft hätten.

Warum nehmen Ältere ihr Wahlrecht öfter wahr als Jüngere, die damit auf politischen Einfluss verzichten?

Junge Menschen engagieren sich durchaus politisch, aber oftmals bedienen sie sich nicht der üblichen Instrumente, die eine demokratische Ordnung zur Verfügung stellt. Eine Erklärung ist, dass diese Gruppe die Bedeutung von Wahlen noch nicht ganz erkannt hat. Wir sehen aber regelmäßig, dass rund um Wahltermine auch das politische Interesse von jungen Menschen steigt.

Wie verändert sich das politische Bewusstsein von jungen Menschen?

Die Klimaschutz-Bewegung Fridays for Future hat in den vergangenen Jahren viele von ihnen weiter politisiert: Es gibt nun eine viel stärkere Aufmerksamkeit für den Kampf gegen den Klimawandel und die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen und können. Wer sich damit beschäftigt, interessiert sich bald auch für ökonomische Zusammenhänge.

Dagegen erscheint jungen Menschen die Mitarbeit in Parteien oder Verbänden weniger attraktiv, da gehen die Mitgliederzahlen in dieser Altersgruppe seit Jahren zurück. Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder liegt nur bei den Grünen unter 50 Jahren.

Wenn die Bereitschaft zu dauerhaftem politischen Engagement bei jungen Menschen sinkt, heißt das: Sie sind erlebnisorientierter, wollen sich eher spontan und kürzer engagieren?

Das würde ich so nicht ausdrücken. „Erlebnisorientiert“ klingt ja so, als wollten junge Menschen nur Spaß haben. Sie interessieren sich aber nicht nur für tolle Partys, sie bringen von sich aus ein großes Interesse für Politik mit.

Aber sie haben ihren eigenen Ansatz: Sie schauen genau, wo sie ihre Meinung einbringen können. Sie suchen die Bestätigung, dass sie wahrgenommen werden und mit ihrer Stimme etwas verändern können. Es gibt einen Trend: Junge Menschen suchen lieber selbst direkt die Öffentlichkeit, als sich in die Strukturen von Parteien oder anderen Organisationen einbinden zu lassen.

Menschen unter 18 verfolgen das politische Geschehen - hier im Bundestag - dürfen die Abgeordneten aber nicht wählen.
Menschen unter 18 verfolgen das politische Geschehen - hier im Bundestag - dürfen die Abgeordneten aber nicht wählen.

© Wolfgang Krumm/picture alliance / dpa

Sie haben den Klimawandel angesprochen. Ist es fair, dass die Stimme von Menschen im Alter von, sagen wir, 70 Jahren, bei Wahlen genauso viel zählt wie die von jungen Menschen, welche die Folgen der Erderwärmung noch Jahrzehnte erfahren oder erleiden werden?

Wir waren ja schon an dem Punkt, dass die die Menschen über 60 in Deutschland bei Wahlen mehr Einfluss haben als die Jüngeren. Da gibt es ja durchaus Vorschläge, wie man die Gewichte verschieben könnte. Der erste ist die Herabsetzung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre.

Der zweite ist ein Kinderwahlrecht, das von Geburt an gilt, aber zunächst von den Eltern stellvertretend wahrgenommen wird, bis die Kinder oder Jugendlichen es für sich beanspruchen. Damit soll sichergestellt werden, dass auch die nachwachsende Generation in ihren Bedürfnissen und Anliegen gut repräsentiert wird.

Was halten Sie von einem Wahlrecht für jedes Kind?

Es anerkennt die Bürgerrechte aller Personen unabhängig vom Alter. Gegen die Stellvertretung durch die Eltern gibt es einen Einwand: Werden Eltern nicht einfach ihren eigenen Präferenzen folgen? Können wir davon ausgehen, dass Eltern heute schon bei ihrer Stimmabgabe die künftigen Interessen ihres Kindes oder ihrer Kinder mitberücksichtigen?

Aber: In vielen anderen Bereichen gehen wir unbesehen davon aus, dass Eltern im Sinne der Interessen ihrer Kinder handeln. Vor allem: Wir haben starke demographische Verschiebung, die Zahl der Älteren wächst stark im Verhältnis zur Zahl der Jüngeren. Damit wächst auch die Gefahr, dass die Älteren sich mit den eigenen Interessen und Bedürfnissen zu Lasten jüngerer Generationen durchsetzen. Das Kinderwahlrecht könnte da ein wirksames Gegenmittel sein.

Und was ist mit der Absenkung des Wahlalters auf 16 für den Bundestag, die bei Landtagswahlen in etlichen Ländern schon vollzogen wurde?

Wir werden noch viele Auseinandersetzungen führen müssen, bis das Wahlrecht von Geburt an sich durchsetzt. Deshalb bin ich dafür, als ersten Schritt das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen. Dafür gibt es gute Gründe. Wir wissen, dass das politische Interesse im Verlauf des Jugendalters deutlich steigt, mit 16 ist es fast ebenso hoch wie mit 18. Allerdings wird die eigene politische Entscheidung erst in dem Moment wichtig genommen, wo jemand auch wahlberechtigt ist.

Wie erklären Sie sich, dass bei den Erstwählern zwei so unterschiedliche Parteien wie Grüne und FDP an der Spitze liegen?

Über die Grünen haben wir im Zusammenhang mit Fridays for Future ja schon gesprochen: Junge Menschen haben ein vitales Interesse daran, den Klimawandel zu stoppen, die Umwelt zu schützen, zukunftsfähige Lösungen auch für Gesellschaft und Wirtschaft zu finden. Dazu greifen die Grünen auch das Thema soziale Gerechtigkeit auf, das ergibt offenbar eine für junge Menschen attraktive Mischung.

Und der Zuspruch der Erstwähler zur FDP?

Der zeigt, dass die Jugend nicht so einheitlich denkt und fühlt, wie sich das manche vorstellen. Sie ist nicht weniger differenziert als Ältere. Dazu kommt: Gerade in der Corona-Pandemie haben viele junge Menschen am eigenen Leibe erlebt, wie starr bürokratische Strukturen in Deutschland sind, wie wenig autonom eine Schule entscheiden kann.

Selbstständigkeit und Bürokratieabbau sind ja auch zwei Themen, für die die FDP steht. Das kann durchaus junge Leute ansprechen, die womöglich später ein eigenes Unternehmen gründen wollen.

Sabine Walper, Psychologin und Pädagogikprofessorin, leitet seit 1. Oktober das Deutsche Jugendinstitut.
Sabine Walper, Psychologin und Pädagogikprofessorin, leitet seit 1. Oktober das Deutsche Jugendinstitut.

© Wort & Bild Verlag - Verlagsmeldungen/DJI/David Ausserhofer

Die Corona-Pandemie hat Kinder und Jugendliche hart getroffen – auch durch den Lockdown. Was hat der Kampf gegen die Pandemie angerichtet?

Wir sehen in unseren Untersuchungen erhebliche psychische Belastungen, Erlebnisse von Niedergeschlagenheit bis hin zur Depression. Kinder und Jugendliche sind stark auf ihre Gleichaltrigen angewiesen, auf das Zusammensein in der Gruppe, den Austausch mit anderen. Das hat der Lockdown erschwert oder verhindert. Viele haben unter Einsamkeitsgefühlen gelitten.

Übrigens waren davon gerade nicht diejenigen betroffen, die vorher schon psychisch belastet waren, sondern eher die extrovertierten Jugendlichen, denen das Zusammensein mit anderen wichtig war und nun fehlte.

Welche Auswirkungen hatte Corona im Bildungsbereich?

Die Lernzeiten sind deutlich zurückgegangen – und zwar abhängig von der sozialen Stellung der Familie. Denken Sie an das Foto, auf dem sich drei Kinder um ein Laptop drängeln, um den Online-Unterricht zu verfolgen. Familien mit höherem Einkommen konnten jedes Kind mit einem Gerät ausstatten, ärmere Familien nicht.

Die Möglichkeit, aus dem Home Office heraus wenigstens zeitweise die eigenen Kinder zuhause zu betreuen, stand Fabrikarbeitern oder Kassiererinnen auch nicht zur Verfügung, Akademikern dagegen viel häufiger, die dann ihre Kinder beim Lernen begleiten können. Es wird eine große Aufgabe von Politik sein, die soziale Bildungsschere, die hier noch weiter aufgegangen ist, wieder zu schließen – wenigstens ein Stück.

Wie nehmen das die Kinder oder Jugendlichen selbst wahr?

Für unsere Untersuchung „Aufwachsen in Deutschland – Alltagswelten“ haben wir ohne thematische Vorgabe gefragt, was Kindern und Jugendlichen Sorgen macht. Das Ergebnis war, dass 40 Prozent von ihnen Bildungsthemen genannt haben -  weit vor jedem anderen Thema. Das zeigt: Wie es weitergehen würde mit der eigenen Bildung in der Schule, mit Prüfungen, der Lehre oder dem Studium hat die Jugendlichen sehr umgetrieben. 

Wie lassen sich die Defizite etwa in der Bildung wieder aufholen – reicht da das sogenannte Corona-Aufholpaket der Bundesregierung aus?

Dafür ist sicher ein längerfristiges Engagement der Politik notwendig. Vor allem das Problem der unterschiedlichen Erfolgschancen im Bildungsweg aufgrund sozialer Unterschiede kennen wir schon seit mindestens zwanzig Jahren. Alle politischen und pädagogischen Versuche, dagegen anzugehen, haben nicht wirklich gefruchtet.

Wir müssten auch den Unterricht in den Schulen ändern, stärker individuell auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler eingehen und ihre Interessen berücksichtigen. Aktuell müssen wir aufpassen, dass der Druck auf die jungen Menschen nicht zu groß wird, das aufzuholen, was wegen Corona liegengeblieben ist.

Was heißt das?

Mein Rat wäre eher, Druck rauszunehmen. Notwendig wäre nun, in das Bildungssystem zu investieren, mehr Personal einzustellen und eine höhere Qualität des Unterrichts anzustreben. Das Aufholpaket der Bundesregierung enthält da gute Ansätze, weil es auch Geld für den Ausbau der Schulsozialarbeit bereitstellt.

Das eröffnet die Chance, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, aus ihren Ängsten und ihrer Niedergeschlagenheit wieder herauszukommen. Ich meine, dass eine Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe im Schulalltag auch nötig bleibt, wenn wir die Corona-Krise und ihre negativen Folgen überwunden haben. Nur wenn sich Schülerinnen und Schüler wohlfühlen in der Schule, haben sie auch den Kopf offen für das Lernen.

Bei den Erstwählern liegen ihre Parteien vorne: Robert Habeck und Annalena Baerbock von den Grünen mit FDP-Chef Christian Lindner.
Bei den Erstwählern liegen ihre Parteien vorne: Robert Habeck und Annalena Baerbock von den Grünen mit FDP-Chef Christian Lindner.

© Michael Kappeler/dpa

Was erwarten Sie von einer künftigen Bundesregierung?

Eine neue Bundesregierung müsste das Problem der Kinderarmut in Deutschland energisch angehen. Dass in so einem reichen Land bis zu 20 Prozent der Kinder in Armut aufwachsen, ist ein Zeichen dafür, wie ungleich die Ressourcen verteilt sind. Und der Bund müsste mithelfen, dass auch möglichst viele dieser Kinder eine hochwertige Ausbildung erhalten.

Konkret heißt das auch: Eine neue Bundesregierung sollte den Ausbau der Ganztagesschulen weiter finanziell unterstützen und den Länder auch bei den Personalkosten noch mehr helfen. Kurz vor den Bundestagswahlen hatten sich Bund und Länder geeinigt, einen bundesweiten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter einzuführen.

Jedes Kind, das vom Jahr 2026 eingeschult wird, hat damit bis zum Eintritt in die fünfte Klasse einen Anspruch auf einen Ganztagsplatz.  hat. Bei einer hohen Bildungsqualität liegt darin auch eine Chance, den Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft aufzubrechen.

Das müssen Sie uns erklären …

Wenn der Schwerpunkt der Bildung stärker von der Familie in die Schule verlagert wird, fördert das Kinder, die zu Hause weniger Anregungen bekommen. Diese Hoffnung wird sich natürlich nur erfüllen, wenn die Angebote auch qualitativ hochwertig sind und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in der ganzen Breite fördern.

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Wenn Sie sich die Programme von SPD, Grünen und FDP zu Jugend-, Bildungs- und Familienfragen ansehen - kann die Ampelkoaliton, die nun näherrückt, für diese Gruppen eine Chance sein?

Eine Ampelkoalition ist eine Chance für Jugendliche und Familien. Die SPD ist gewillt, gegen soziale Ungleichheit vorzugehen, die gerade im Bildungsbereich schlimme Auswirkungen hat. Die Grünen versuchen, im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung den Klimawandel zu stoppen und die Umwelt zu erhalten – das ist natürlich im Interesse der jungen Generation.

Die FDP mit ihrer Wertschätzung des Individuums könnte helfen, bürokratische Hemmnisse abzubauen, mehr Flexibilität zu ermöglichen, die dann Raum für innovative Lösungen schafft – gerade im Bildungsbereich. Ich habe die Hoffnung, dass sich die drei Partner hier ergänzen.

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