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Georgien

© dpa

Kaukasus: "Die Lage in Georgien kann schnell eskalieren"

Es ist gerade einmal ein gutes halbes Jahr her, dass Georgien und Russland sich einen blutigen Krieg um die abtrünnige Provinz Südossetien im Kaukasus geliefert haben. Nun demonstrieren in der georgischen Hauptstadt Tiflis Tausende gegen Präsident Saakaschwili, das instabile Land wird erneut erschüttert. Kaukasus-Expertin Iris Kempe erklärt, warum sie sich um die schwache Demokratie Georgiens sorgt.

Frau Kempe, in Georgiens Hauptstadt Tiflis gibt es eine Massendemonstration gegen Präsident Michail Saakaschwili. Warum gehen die Menschen auf die Straße?

Die Georgier sind extrem unzufrieden mit ihrem Präsidenten. Saakaschwili wird verantwortlich gemacht für den verlorenen Krieg gegen Russland, für den Verlust von Abchasien und Ingutschetien und das ungelöste Flüchtlingsproblem. Tausende Menschen sind vor der russischen Armee im August 2008 geflohen und kampieren heute noch in Notunterkünften. Die Leute haben keine Arbeit und keine Perspektive.

Die Georgier demonstrieren also gegen die unfähige Regierung und nicht für mehr Demokratie wie die Menschen während der orangenen Revolution in der Ukraine?

Die Kritik richtet sich tatsächlich fast ausschließlich gegen Saakaschwili. Er ist der Buh-Mann der Nation, das Feinbild schlechthin. Die Forderung der Demonstranten beschränkt sich auf: Saakaschwili soll weg. Nur wenige Intellektuelle fordern die Stärkung des Parlaments oder einen Ausbau der demokratischen Strukturen.

Wer demonstriert gegen den Präsidenten, aus welchen Gesellschaftsschichten kommen die Menschen?

Die breite Öffentlichkeit geht demonstrieren. Die Menschen kommen eigentlich aus allen Gesellschaftsschichten.

Erwarten sie eher friedliche Proteste oder gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Sicherheitskräften?
Ich bin besorgt. Die Lage kann schnell eskalieren. Die Befürchtungen aller Experten sind sehr groß. Vertreter der georgischen Zivlilgesellschaft haben mich gefragt, welche europäischen Politiker vermitteln könnte, falls die Gewalt eskaliert, wer ihnen helfen kann.

Welche Reaktion erwarten Sie von Saakaschwili auf die Kritik von der Straße?

Die Proteste könnten Ausmaße annehmen, auf die er reagieren muss. Die große Gefahr ist, dass er sich provozieren lässt, dass wie im November 2007 Schüsse fallen. Seit drei Monaten wird der 9. April als großer Protesttag thematisiert. Saakaschwili müsste mental und organisatorisch auf diesen Tag vorbereitet sein. Es hat internationale Signale an die georgische Führung gegeben, Botschafter haben zur Ruhe gemahnt. Aber im Kaukasus sind seriöse Vorhersagen schwierig. Georgien ist keine gefestigte Demokratie und die soziale Unzufriedenheit ist riesengroß.

Welche Bedeutung hat der 9. April für die Georgier?

Am 9. April 1989 kam es zu großen Protesten in Tiflis gegen die Sowjetunion, Soldaten schossen in die Menge und töteten 20 Demonstranten. Der Tag ist ein symbolträchtiges Datum. Kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Gegnern Saakaschwilis, reicht ein Opfer aus, um das Land zu destabilisieren. Das wäre ein gigantischer Rückschritt für die Demokratie.

Falls Saakaschwili dem Druck der Straße nachgäbe und zurückträte, würde das also nicht viel ändern.

Das stimmt leider. Es gibt keinen Anführer der Opposition der für Veränderung steht, keinen Lech Walesa und keinen Vaclav Havel. Niemand kann die Massen wirklich hinter sich bringen und eine Idee für ein besseres Georgien entwickeln. Doch nicht alles ist schlecht in dem Land. Die Zustände in Georgien sind nicht so schlimm wie in Weißrussland  oder Aserbaidschan. Georgien hat einen Schritt in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft gemacht.

Georgien gilt in Deutschland dennoch immer noch als eine schwache Demokratie. Wie bewerten sie die Entwicklung des Landes?

Die Zivilgesellschaft ist schwach in Georgien, ebenso das Parlament. Die sind keine Programmparteien, sondern an einzelne Personen gebunden. Sie entwickeln keine Visionen, keine Ideen, die georgischen Parteien sind meistens nur gegen etwas, im Moment vor allem gegen Saakaschwili.

Wie geht der Präsident mit der Kritik der Opposition um?

Saakaschwili ist nervös. Er hat in den vergangenen Monaten immer wieder Minister, auch den Premier, ausgewechselt. Georgien steht unter einem großen Druck, von außen und im Innern: Nichts hätte Putin lieber, als sich Georgien einzuverleiben. In Georgien gibt es momentan zwei Feinde: An Platz eins steht Saakaschwili, auf Platz zwei Russland. Aber konstruktive Vorschläge, wie mit beiden Problemen umgegangen werden sollte, haben die Demonstranten nicht.

Visionär gedacht, wie könnte sich Georgien positiv entwickeln?

Zu einer Anbindung an oder besser zu einer Einbindung in europäische Strukturen gibt es eigentlich keine Alternative. Ob das gelingt, ist eine große Frage. Mit Unterstützung des Westens kann Georgien seinen richtigen Weg fortsetzen. Noch ist das Land viel zu sehr isoliert: Es gibt keinen Ikea-Markt in Georgien und keine Busverbindung nach Deutschland.

Wenn es tatsächlich zu Unruhen in Tiflis kommt: Wie sehr würde das den Westkurs Georgiens erschweren?

Die innenpolitischen Konflikte schaden dem Land deutlich. Ob eine Aufnahme in die Nato der richtige Schritt wäre, bezweifele ich. Eine Annäherung an die EU ist wichtig, die aktuelle Situation erschwert das. Georgien braucht mehr Freunde in Europa. Da ist Deutschland gefordert. Die Bundesregierung sollte stärker die Interessen Georgiens in der EU vertreten und die östliche Partnerschaft zu stärken. (ZEIT ONLINE)

Iris Kempe leitet das Süd-Kaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis.

Interview von Hauke Friederichs

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