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Helmut Schmidt: Die Kraft der späten Jahre

Aus dem Parteimann wurde ein Staatsmann. Aus dem Macher eine Autorität. Und am Ende ist Helmut Schmidt sogar der Vorphilosophierer der Nation. Hermann Rudolph über einen streitigen, umstrittenen Politiker, der sich zu einer deutschen Instanz verwandelte.

Der Anlass ist ohne Beispiel. Einen Geburtstag wie diesen 90. mit seiner Überfülle von Würdigungen, respektlos Schmidt-Festspiele genannt, hat es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Zwar erreichte auch Adenauer dieses Alter. Doch der erste Kanzler der Bundesrepublik stand zu diesem Zeitpunkt, 1966, bereits im Abendlicht seines Nachruhms. Der fünfte in der Reihe der Regierungschefs teilt in einem erstaunlichen Maße unsere Gegenwart. Ohne Alters-Rabatt zu beanspruchen, nimmt er teil an ihren aktuellen Debatten. Eben erst hat er ein neues Buch vorgelegt, das auch gleich an der Spitze der Bestsellerliste gelandet ist. Es zeigt, dass die Schärfe seiner Urteile ungebrochen ist. Manager-Habgier, Sozialstaats-Debatte, Afghanistan-Einsatz und was sonst an Themen anliegt – Helmut Schmidt ist allemal gut für markante Positionen.

Natürlich erzwingt schon seine Präsenz Bewunderung. Zwar ist er sichtlich älter geworden, Gehstock und Hörgerät sind mittlerweile unentbehrlich, und die ganze Gestalt wirkt nun wie eine sichtbare Verkörperung jenes Urgesteins der Republik, zu dem er gehört. Aber was für eine Ausstrahlung von Stärke noch in der Schwäche des Alters! Was für ein Bewusstsein auf der Höhe der Zeit in einem biblischen Alter! In seinem 90. Jahr ist Schmidt ein Elder Statesman, den man dem dynamischen Jung-Politiker mit dem Haifisch-Lachen und selbst dem eisernen Kanzler seiner Regierungsjahre nicht zugetraut hätte. Er ist, so der „Spiegel“, zur politischen „Ikone“ der Deutschen geworden.

Gewiss hat das auch damit zu tun, dass die Deutschen so lange mit ihm leben. Seit mehr als 40 Jahren, seitdem er 1962 zum Helden der Hamburger Sturmflut wurde, zählt er zu der kleinen Handvoll derer, die der deutschen Politik das Gesicht gaben. Der Fraktionsvorsitzende, der Minister, der Kanzler, schließlich für gut zwei Jahrzehnte der Publizist und die öffentliche Instanz – immer war da, auf Podien, Zeitungen, nicht zuletzt im Fernsehen, die einprägsame Physiognomie, das volle Haar gescheitelt im Dreißiger-Jahre-Stil, die Sprache norddeutsch geschliffen. Und unverwechselbar blieb auch die Botschaft, für die dieses Bild steht: das Pathos der Sachlichkeit, der Rang von Pflicht und Verantwortung, eine späte Nachricht vom Staat und was mit ihm gemeint ist.

Aber ein bisschen verwunderlich ist diese späte Apotheose doch. Dem Jungpolitiker lief das Wort von „Schmidt-Schnauze“ nach, als „Abkanzler“ verhöhnte die Opposition den überlegenen Regierungschef, „le Feldwebel“ spottete das Ausland. Auch der Titel eines „Weltökonomen“ auf der Höhe seiner politischen Laufbahn war ein Lobeswort mit Widerhaken. Es sollte auch den Selbstdarsteller treffen, der, wie gespottet wurde, so dynamisch auf der Stelle treten konnte wie kein anderer. Schmidt unbestreitbares Format ging stets zusammen mit einem schroffen, reizbaren, nicht selten hochfahrenden Wesen. Leicht zu bewundern war er nie.

Auch als Politiker war er keineswegs unbestritten. Mit seiner brüsken Ablehnung von allem, was nach Euphorie und Utopie aussieht – bekannte Kurzfassung: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ –, stieß er viele vor den Kopf, vor allem die Jüngeren. Der Parteiintellektuelle Peter Glotz nannte das seinen „bewusst abgemagerten Politikbegriff“ – ein Wort mit Trauerrand. Gerade in seiner Partei wurde er als „rechter Technokrat“ (ab-)qualifiziert, und nach dem Ende seiner Regierungszeit und dem Beginn der Herrschaft der (Brandt-)Enkel galt sein Regiment lange als eine Art Abweichung vom rechten sozialdemokratischen Weg. Über fast zwei Jahrzehnte wurde es mit verächtlichem Schweigen bedacht. Erst Gerhard Schröder rückte diese verquere Sicht wieder gerade.

Überhaupt schien es so, als ob seine Regierungszeit zu einem folgenlosen politischen Zwischenspiel in der Geschichte der Bundesrepublik verblasste. Da gab es, unbestritten und hoch gepriesen, eine Ära Brandt. Aber eine Ära Schmidt? Einer weitverbreiteten Lesart der Zeitgeschichte zufolge, galt seine Übernahme der Kanzlerschaft 1974 vor allem als Ende der sozialliberalen Reformen und Beginn eines fantasielosen, den Sachzwängen unterworfenen Pragmatismus.

Umso mehr ist es an diesem Geburtstag an der Zeit, daran zu erinnern, was Schmidt für die deutsche Politik gewesen ist. Er war, zum Beispiel, der junge Fraktionsvorsitzende zur Zeit der großen Koalition, der damals, zwischen 1965 bis 1969, zusammen mit seinem CDU-Pendant Rainer Barzel die erfolgreiche Arbeit eines schwierigen Bündnisses gewährleistete. Der Verteidigungsminister, der er 1969 wurde – ungern –, hinterließ eine reformierte Bundeswehr, aber auch die Bundeswehrhochschulen und – die Bigband der Bundeswehr. Mit alledem gehörte er zu denen, die die Bundesrepublik auf die Bahn der notwendigen Modernisierung brachten.

Auch hat seine Kanzlerschaft trotz des mit ihr verbundenen Kurswechsels keineswegs die sozial-liberalen Reformen liquidiert, sondern ihre Fortführung möglich gemacht – „Kontinuität und Konzentration“ hieß das Motto seiner Regierungserklärung. Schmidts Standfestigkeit gab den Ausschlag dafür, dass die Bundesrepublik die Feuerprobe des Terrorismus bestand. Mit ihm an der Spitze bewältigte sie zwei Weltwirtschaftskrisen besser als so ziemlich alle anderen Staaten. Man kann einwenden, dass Schmidt auch die bürokratisch-etatistische Verformung von Wirtschaft und Gesellschaft vorangetrieben hat, die die nachfolgenden Generationen mit Verschuldung und einem strapazierten Sozialsystem belastete. Aber der Fairness wegen muss man dann auch hinzufügen, dass dieses Modell immerhin 20 Jahre lang funktioniert hat.

Schließlich ist es seinem Einsatz und seinem Ehrgeiz zu verdanken, dass die Bundesrepublik damals außen- und sicherheitspolitisch in eine weltweit mitentscheidende Rolle hineinwuchs. Er begründete die Gipfeldiplomatie, die weltpolitisch jedenfalls die Haben-Seite vermehrt hat, aller routinehaften Abstumpfung dieses Instrumentes zum Trotz. Er wurde zum Vater des Doppelbeschlusses,der eine dramatische Krise der ost-westlichen Weltlage beantwortete. Die Auseinandersetzung, in der er die Bundesrepublik stürzte, war gewaltig. Heute wissen wir, dass dieser strategische Zug richtig war.

Zugleich allerdings wurde an dieser Stelle sein schwieriges Verhältnis zu seiner Partei spektakulär sichtbar. Einerseits war Schmidt in gewissem Sinne der erfolgreichste sozialdemokratische Politiker, sogar, wenn man so will, im Jahrhundertmaßstab: Länger als er, acht Jahre, war kein anderer Kanzler, nicht Brandt, auch nicht Schröder. Andererseits ist keiner so tief gefallen. „Erfolgreich regiert – am Ende ausmanövriert“ überschreibt sein Biograf Hartmut Soell die Darstellung des Endes seiner Regierung. Aber in Wahrheit war es die eigene, von alternativen Wehen geschüttelte Partei, die ihn zu Fall gebracht hat. Der Kölner Sonderparteitag 1982, auf dem bei der Abstimmung über die Nachrüstung nur noch das Häuflein der Getreuen für ihn den Arm hob, bleibt der Tiefpunkt seiner Laufbahn – und der Geschichte der SPD. Was da scheiterte, war eine Politik und ein Charakter. Aber auch eine Partei, die ja auch 16 Jahre brauchte, um wieder an die Macht zu kommen.

Es war auch Schmidts Art, Sozialdemokrat zu sein, die damals hart auf die Probe gestellt wurde. Und damit ist nicht die SPD der Kriegsgeneration gemeint, über die man gespottet hat – Schmidt im Auge –, dass ihr Solidaritätsbegriff mehr aus dem Offizierskasino als aus der Arbeiterbewegung stamme. Man muss Schmidt vermutlich in die Linie der großen alten SPD-Regierungschefs der Nachkriegszeit rücken – von Max Brauer in Hamburg und Wilhelm Kaisen in Bremen bis zu Herbert Weichmann, dem Hamburger Bürgermeister. Es musste allerdings der 90.Geburtstag kommen, damit der neue Vorsitzende Franz Müntefering gegenüber Schmidt eingestand, er und seine Generation hätten „überwiegend und lange seine Bedeutung für die Theorie und Praxisdebatte der Sozialdemokraten unterschätzt“. Dabei hat Schmidt doch, nicht ganz frei von dem Ehrgeiz, auch der Vorphilosophierer der Nation zu sein, die Öffentlichkeit mit Kant und Karl Popper und seinen Überlegungen zur Politik als „pragmatischem Handeln zu sittlichen Zwecken“ nicht wenig strapaziert.

Zu diesem 90.Geburtstag liegen die Kontroversen, die sich um ihn gerankt haben, so weit zurück, als hätte es sie nie gegeben. Schmidt hat sie überlebt, nicht zuletzt in der staunenswerten Altersform, die aus dem streitigen und umstrittenen Politiker eine Instanz gemacht hat, mit dem selbst seine Kritiker ihren Frieden gemacht haben. Der Parteimann ist zum Staatsmann geworden, der Macher zur Autorität. Auch wenn Letzteres vielleicht auch damit zusammenhängt, dass das Wort mittlerweile den Makel verloren hat, den es ihm einbrennen sollte: Erstens wären heute viele froh, wenn Politik so schnörkellos und effektiv gemacht würde wie von ihm, und zweitens hat sich herausgestellt, wie wenig es gestimmt hat.

Denn dem Ausscheiden aus der Politik 1982 hat Schmidt ein zweites Leben folgen lassen. Es hat ihn zum Herausgeber der „Zeit“ gemacht, zum Autor von mehr als einem halben Dutzend Büchern, auch, nach der Wiedervereinigung, zum Mitbegründer der deutschen Nationalstiftung. Inzwischen, dreimal so lang dauernd wie seine Kanzlerschaft, hat diese Tätigkeit erst recht sichtbar gemacht, wie sehr Schmidt gerade von dem moralisch-politischen Impetus angetrieben wurde, dessen Fehlen seine Kritiker ihm früher vorgehalten hatten.

Im Übrigen gehört zu Schmidt, was in der politischen Klasse nicht die Regel ist: ein privates Leben, nicht jenseits der Politik, aber doch neben ihr. Schmidt hat sich immer dagegen gewehrt, dass man ihm zu nahekommt; jede Art von Exhibitionismus ist ihm ein Gräuel. Andererseits kann man sich den Mann nicht denken ohne die sehr persönliche, ausgeprägte Lebenswelt des Privatmanns Schmidt. Sie modelliert an seiner Aura mit: die Ehe,die die Eiserne Hochzeit längst hinter sich hat, die eigenständige Loki Schmidt, die gerade ein Buch auf der Bestseller-Liste hat, das Reihenhaus in Langenhorn, das, wie es heißt, auch einem Studiendirektor gehören könnte, der Brahmsee mit dem sehr schlichten Ferienhaus. Dahinter stehen die Prägungen der Herkunft: der Lehrerhaushalt, aus dem er stammt, kleine Verhältnisse, die Reformluft der Lichtwarkschule, natürlich das Generationserlebnis des Krieges.

Ist es das, was diesem langen Leben Halt gegeben hat, als Gegengewicht, als Stabilisator der politischen Existenz? Helmut Schmidt: Das ist auch der bürgerliche Charakter, geprägt durch Ernsthaftigkeit, vielfältige Interessen und persönliche Bezüge. Er wäre ja nicht der, der er ist, wenn da nicht – zum Beispiel – seine Leidenschaft für die deutschen Expressionisten wäre, die Lust am musikalischen Dilettieren und oder die anrührende Liebe zu seiner Vaterstadt Hamburg, die er selbst, dem Temperament nach eher zurückhaltend, gelegentlich in einem nachgerade lyrischen Ton – „Sie schläft, meine Schöne“ – ausgedrückt hat.

Das Modell Deutschland hieß der Slogan, mit dem Schmidt 1976 die Bundestagswahl gewann. Ein Modellfall für das, was politische Existenz im Deutschland des letzten halben Jahrhunderts sein konnte, ist er selbst.

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