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Die UN sind dem Frieden verpflichtet - und dauernd im Streit. Dazu passt die Plastik vor ihrem Hauptgebäude in New York.

© United Nations

Vereinte Nationen: Die globalste Baustelle der Welt wird 75

Die UN wird viel kritisiert, von Multilateralismusverächtern, präsäkularen, prädemokratischen Kräften - und jetzt auch aus der Identitätspolitik. Eine Analyse.

Von Caroline Fetscher

Am Turmbau zu Babel faszinierte zweierlei. Einerseits berichtet die biblische Erzählung vom Projekt einer Menschengruppe, einen Bau zu errichten, der bis an die Spitze des Himmels reichen sollte. Auf der anderen Seite sah sich Gott, die höchste Autorität, sich durch so große Hybris provoziert. Er intervenierte, indem er die Sprache der Bauleute in derart viele Idiome aufspaltete, dass sie einander nicht mehr verständigen konnten. Die Großbaustelle scheiterte.

Verständigung aller mit allen, heute „globaler Dialog“ genannt, das schien schiere Utopie, auch in der realen Geschichte der Menschheit. Zu disparat, zu auseinanderstrebend die Wünsche und Begehrlichkeiten von Großgruppen, zu massiv bis destruktiv die oft wahnhaften Konstruktionen, mit denen Ansprüche begründet wurden auf Territorien und Herrschaft über andere. In der Geschichte vom Turmbau ist es ein Gott, der die Solidarität sabotiert. In der realen Geschichte sind es freilich die Menschen, getrieben von ihren partikularen Interessen.

Als 1945 der Zweite Weltkrieg endete, und weltweit das Ausmaß offenbar wurde, mit dem menschliche Destruktivität in den Abgrund der Shoah geführt hatte, zum Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas, begann mit dem globalem Entsetzen ein globales Umdenken: 51 Staaten gründeten die Vereinten Nationen, die UN.

Sie sind bis heute eine beeindruckende, weltpolitische Großbaustelle, sie sind der Versuch eines konstruktiven, kollektiven Turmbaus. Dessen Bauzeichnung ist die Charta der Menschenrechte, das ethische Fundament der UN. Abdulqawi Ahmed Yusuf, Präsident des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen in Den Haag würdigte die Charta jetzt, im 75. Jahr ihres Bestehens, als „ein multilaterales, rechtliches Manifest basierend auf Grundprinzipien und Normen mit dem Ziel, weltweit Frieden, Freiheit, Entwicklung, Gleichheit und Menschenrechte zu sichern“.

Darin klingt das Echo von Immanuel Kants „Zum ewigen Frieden“ an, der nur vorstellbar und möglich sein kann als Weltinnenpolitik, nur unter universeller Anerkennung universeller Normen – wie Recht auf Leben, Verbot von Angriffskrieg und Folter, Gleichberechtigung der Geschlechter. Jürgen Habermas erkennt in den Vereinten Nationen den Auftakt der Herstellung „einer weltbürgerlichen Ordnung“, die „den Gebrauch politischer Macht in rechtlich verbindliche Bahnen lenken kann“. Hochkomplex ist die Baustelle mit ihren Dutzenden von Bauhütten, architektonischen Entwürfen, Umbauten, Kränen, Baggern, Abrissbirnen und Neubauten.

Heute haben die Vereinten Nationen 193 Mitgliedsstaaten, in denen Hunderte von Sprachen gesprochen werden, unterschiedliche Deutungskonzepte von Gesellschaft, Geschichte, Gegenwart und Zukunft existieren. Offiziell hat jedes Land in der Generalversammlung eine Stimme, was völlige Gleichrangigkeit suggeriert.

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Tatsächlich sitzt oben im Turm der Sicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitgliedern, China, Russland, USA, Frankreich und Großbritannien. Sie besitzen ein Vetorecht und können auch die zehn nicht- ständigen Mitglieder überstimmen, die alle zwei Jahre durch die Generalversammlung neu nominiert werden.

Zahlreiche Unterorganisationen sollen die Ziele umsetzen, darunter das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das Kinderhilfswerk Unicef als entwicklungspolitisches Organ, UN-Tribunale als Hilfsorgane des Sicherheitsrats und UN- Blauhelme für friedenssichernde Missionen in und nach Konflikten. Präzisiert und überarbeitet werden UN-Ziele durch Konventionen, etwa für die Rechte der Kinder. Einzelmaßnahmen, etwa in Konflikten, beschließt der Sicherheitsrat, das Hauptorgan des UN-Konfliktmanagements für internationale Sicherheit. Ihm obliegen Entscheidungen über Vermittlung, Wirtschaftssanktionen, den Abbruch diplomatischer Beziehungen oder Militärinterventionen, Flugverbotszonen und Seeblockaden.

Eine notorische Schlagseite Richtung Israel

Indes besteht die babylonische Sprachverwirrung vielerorts auf der Großbaustelle fort, von universeller Demokratie sind die UN weit entfernt, nicht allein durch das hierarchische Gefälle, repräsentiert durch die exklusive Gesellschaft am Tisch des Sicherheitsrats. Von Gleichheit der Interessen und Systeme kann bei uneinigen Nationen oft nicht die Rede sein, Demokratien existieren neben Monarchien, Autokratien, Oligokratien, Diktaturen und „failed states“.

Immer noch wollen Regierungen vieler Staaten vom Gewaltverbot gegen Kinder ebenso wenig wissen, wie von der Gleichberechtigung der Frauen, immer noch haben nur Teile der Staatengemeinschaft wichtige Konventionen und Verträge ratifiziert oder verabschieden sich, wie die USA, vom Internationalen Strafgerichtshof.

Paradoxerweise weist die Weltorganisation, die als ethische Antwort auf die antisemitische Menschenjagd des deutschen Nationalsozialismus ins Leben gerufen wurde, eine notorische Schlagseite in Richtung Israel auf. Seit der Gründung des UN-Menschenrechtsrats 2006 hat dieser fast mehr Resolutionen gegen Israel verabschiedet, als gegen alle anderen Staaten zusammengenommen. Dem jüdischen Staat wird hier die Rolle eines globalen Sündenbocks zugeschoben.

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Hilflos oder Hilfe verweigernd zeigt sich der Sicherheitsrat angesichts fürchterlicher Kriege und Bürgerkriege, wie im Fall Syrien. Obwohl auf dem UN-Gipfel 2005 die „Responsibility to Protect“ beschlossen wurde, die „Verpflichtung zu schützen“, und auch bei gravierenden internen Verletzungen von Menschenrechten in einem Land einzugreifen, wird davon kaum Gebrauch gemacht.

Genozid, Kriegsverbrechen, „ethnische Säuberungen“ und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten nach „R2P“ nicht als innere Angelegenheiten eines Staates, sondern erfordern das Handeln der Staatengemeinschaft. Wie der Blick auf Nordkorea oder Myanmar, Jemen oder Syrien belegt, ist von der internationalen Schutzverantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung wenig zu sehen.

Kritik am "weißen, westlich-normativen Konzept" sind irregeleitet

Angefochten werden die Vereinten Nationen nicht mehr nur von präsäkularen, prädemokratischen Kräften, sondern aktuell auch von irregeleiteten Kritiken am „männlichen, weißen, westlich-normativen“ Ursprung des Konzepts der Menschenrechte oder der internationalen Justiz, wie teils in postkolonialen und identitätspolitischen Diskursen zu hören. So sehr zu begrüßen ist, dass neue Impulse kommen, so wenig dürfen die dazu dienen, die Idee der Menschenrechte auszuhebeln und UN-Kritikern falsche Vorwände zu liefern.

Die Großbaustelle bleibt, und sie muss Baustelle bleiben. Dauerhaftes Verhandeln, Austarieren von Interessen, Blockaden wie Durchbrüche durchziehen die Entwicklung der Vereinten Nationen, zu deren Fortbestehen es keine Alternative geben kann – ebenso wenig wie für deren permanente Reform. Die UN können nur so gut sein wie die Summe ihrer Mitglieder. Je mehr stabile Demokratien sich etablieren, desto wirkmächtiger wird sie. In Zeiten der Bolsonaros, Trumps, Lukaschenkos und Erdogans ist jedes Stärken von Demokratie eine Stärkung der Vereinten Nationen.

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