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Sieh um dich, meine schöne scheue Taube. Nur von oben sieht Europa ungeteilt aus.

© aIllustration: Martha von Meydell

Odessa als Idee: Die eigene Stimme in der Symphonie

Wie die Erinnerung an Osteuropas multikulturelle Geschichte die Rückkehr nationalistischer Selbstisolierung verhindern kann. Ein Essay.

Tomas Venclova, 1937 in Klaipeda geboren, ist Litauens international renommiertester Dichter und Intellektueller. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt der Gesprächsband "Der magnetische Norden", in dem er Rückschau auf sein bewegtes Leben zwischen Vilnius und New Haven, Connecticut, hält. wo er viele Jahre lang slawische Literatur an der Yale University lehrte. Mit dem hier dokumentierten Essay eröffnete er vor wenigen Tagen das Internationale Literaturfestival im ukrainischen Odessa. Gregor Dotzauer hat ihn aus dem Englischen übersetzt.

Ich war schon viele Male in Odessa – zuerst in meiner Kindheit, oder besser gesagt, in einem Übergangsmoment zwischen Kindheit und Jugend. In Odessa verbrachte mein Großvater seine Jugend und heiratete; meine Mutter wurde ebenfalls nicht weit entfernt geboren – in Bolhrad. Ich erinnere mich lebhaft an Bolhrads Pappeln und Platanen, seine Weinreben und Goldeschen, die Pracht der Potemkinschen Treppe und das Leben in den kleinen Hinterhöfen aus Kalkstein, den Markt von Priwos und die Kiesel in Luzaniwka.

In Odessa habe ich auch zum ersten Mal die mediterrane Welt kennengelernt. Sogar in der streng abgeschotteten Sowjetunion war Odessa eine Lektion in Sachen Offenheit – im Blick auf das, was Dostojewski in seiner Puschkin-Rede „universale Empfänglichkeit“ genannt hat. Die europäische Geschichte beginnt wie die Geschichte der ganzen Welt mit dem homerischen oinopa pontos – der weindunklen See, auf der die Schiffe der Odyssee ihre Segel hissten. Auf diese Weise hinterließ dieses Meer unauslöschliche Spuren in unserem kulturellen Bildergedächtnis.

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Das Schwarze Meer, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Welt der Steppen, wurde zum nördlichsten Teil des Mittelmeers. Zunächst nannten die Griechen diese Gewässer pòntos àxeinos, das „unwirtliche Meer“, dessen Ufer ihren Mythen zufolge von finsteren Riesen bewohnt waren. Übrigens habe ich einmal dieselben Worte – pòntos àxeinos – als Titel meines allerersten Gedichtbands gewählt, der damals nur im Samisdat erscheinen konnte.

Wohnen in einer totalitären Welt

Der Titel spielte nicht nur auf Eindrücke von meinen jugendlichen Reisen an, sondern auch auf die gefährliche totalitäre Welt, die wir damals bewohnten. Zu gegebener Zeit benannten die Griechen das Meer in „gastfreundlich“ um, eùxeinos pòntos, weil sie an den Ufern Siedlungen gründeten und Beziehungen zu den Einheimischen aufbauten, den Skythen, Sarmaten und Dakern. So gingen diese Küsten in die Überlieferung der antiken Welt ein. In der Nähe dieser Gebiete, nicht weit vom heutigen Odessa, starb Ovid.

Später gerieten die Steppenstämme unter den Einfluss von Byzanz. Einige von ihnen konvertierten zum Christentum. Im Mittelalter wurde das Schwarze Meer vom Großherzogtum Litauen erreicht, dessen Nachfolger mein Heimatland ist, das moderne Litauen. Heute teilt es nicht einmal mehr eine Grenze mit der Ukraine, aber noch vor wenigen Jahrhunderten teilte es mit ihr sein Schicksal. Ein ukrainischer Schriftsteller und eine Figur des öffentliche Lebens stießen kürzlich auf die Litauer an - „die Invasoren, an die sich die Ukraine nicht mehr erinnert“.

Tatsächlich kann die litauische Invasion, im Gegensatz zu späteren, kaum als Besatzung bezeichnet werden. Die Litauer haben den Völkern, die sich dem Großherzogtum anschlossen, nichts aufgezwungen. Im Gegenteil haben sie viel von den Einheimischen gelernt. Tatsächlich gehen die Ursprünge von Odessa, das einst unter dem tatarischen Namen Khadjibey bekannt war, weil Krimtataren in der Gegend nomadisierten – auf das Großherzogtum zurück.

Verwickelte historische Stränge

Dies sind nur einige der verwickelten, ineinander verwobenen Stränge, die der Geschichte Odessas zugrunde liegen. Der vielleicht wichtigste Faden ist der des Saporoger Sitsch, eines Siedlungsgebiets, das eine der Grundlagen der ukrainischen Nationalität und Souveränität bildet. Doch in Odessa findet man auch einen italienischen Faden (Odessa erinnert in gewisser Weise an Genua), einen französischen (Odessa erinnert an Marseille), einen polnischen sowie moldawische, armenische und natürlich jüdische Fäden.

Es gibt auch einen russischen Strang, aber die echten Odessaner Russen sind ein besonderes Gewächs. Anders als ein Russe aus Moskau oder St. Petersburg sind sie offener, verstehen sich besser mit ihren Nachbarn und sind, würde ich sagen, eher mediterran. Vielleicht könnte man Odessa von seiner Kultur her als einen Ableger der Levante bezeichnen.

All dies hat zu Odessas hervorragender literarischer Tradition beigetragen, die mit Alexander Puschkin, Adam Mickiewicz und Lesya Ukrainka beginnt und in unterschiedlichem Maße Anna Achmatowa, Boris Schitkow und Juri Olesha, Hayim Nahman Bialik und Isaak Babel umfasst – und von zeitgenössischen Autoren der freien Ukraine beerbt wird.

Odessa ist wie meine Geburtsstadt Vilnius ein Grenzland zwischen den Ländern und Kulturen. Grenzen können für Schriftsteller außerordentlich fruchtbar sein, wie Dublin zeigt, an das sich die Namen von William Butler Yeats und James Joyce knüpfen, Prag, das mit Franz Kafka, Jaroslav Hašek und Karel Capek verbunden ist; oder auch die Stadt Triest und viele andere Orte. Grenzgebiete, darunter Dublin, Prag, Triest, Vilnius und Odessa, werden leider allzu oft zu Konflikt- und Streitzonen. Und hier kehren wir zu einer ernsteren Krise zurück, die in unseren Augen nur gerade von der Pandemie überschattet wird. Denn wie ernst die gegenwärtige Gesundheitskrise auch sein mag, sie ist milder und vorübergehender.

Kollaps und neue Blüte

Vor 30 Jahren wurden wir Zeuge, wie ein isoliertes, hoffnungslos rückständiges Imperium zusammenbrach – ein Kollaps, den einige heute als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts beschreiben. Natürlich war es keine Katastrophe, sondern der Beginn einer blühenderen Ära. Aus ihr entstanden mehrere freie oder relativ freie Länder von erstaunlicher Vielfalt, oder sie erlebten ihre Wiedergeburt. Sie entwickeln ihr Erbe und verfolgen ihre eigene Richtung: ein Erbe, das ihnen nicht von einer unmenschlichen Diktatur aufgezwungen wird.

Einige sind auf diesem Weg anfangs zurückgeblieben, haben sich aber am Ende doch dem allgemeinen Strom angeschlossen. Der jüngste Neuzugang ist Belarus, der nördliche Nachbar der Ukraine, wo vor unseren Augen ein Volk entstanden ist, das sich seiner Würde bewusst ist; ein Volk, das mit beneidenswerter Ruhe und Noblesse fordert, dass die Menschenrechte geachtet und die Gedanken- und Gewissensfreiheit geschützt werden.

Allerdings hat man ihnen Hindernisse in den Weg gelegt: von Polizeirazzias bis zu geheimen Mordversuchen, von gefälschten Wahlergebnissen bis zur erzwungenen Vertreibung und dem Zwang, das Land zu verlassen, von Lügenpropaganda bis zur direkten militärischen Intervention, Besetzung und Annexion.

Dies kann sich leicht zu einer echten geopolitischen Katastrophe entwickeln. Es scheint, dass wir zur Situation der 1930er Jahre zurückkehren. Dubiose Theoretiker und Experten beschreiben dies als eine Rückkehr zu „traditionellen Werten“ und „einer multipolaren Welt“. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Rückkehr zu Konflikten und Unfreiheit.

Verletzte Souveränität

Osteuropa droht von Neuem, eine Gefahrenzone zu werden. Die Souveränität der internationalen Grenzen wird schamlos verletzt. Um noch eins draufzusetzen, wird dies als Wille des Volkes ausgegeben. Grenzen, die nur für Waren und Ideen offen sein sollten, werden überschritten, um sowohl mörderische Waffen als auch die Mörder selbst hinüber zu schmuggeln.

Nicht zuletzt kommen statt echter Grenzen vorläufige Demarkationslinien zum Vorschein, an denen entlang sich Schießereien fortsetzen. Die Demontage des Eisernen Vorhangs war ein großer Sieg. In jüngster Zeit hat er sich mit nur wenigen geografischen Verschiebungen de facto wieder geschlossen.

Schriftsteller und ganz allgemein Intellektuelle rufen bei diktatorischen Regimes Feindseligkeit und Verachtung hervor. Aber das ist nicht das Schlimmste, denn Feindseligkeit und Verachtung verbergen die Angst, eine manchmal hysterische Angst, die Kontrolle zu verlieren. Viel bedauerlicher ist, dass Schriftsteller und Intellektuelle sehr oft über ihre eigene Unzulänglichkeit und Irrelevanz sprechen. Eines der häufigen zeitgenössischen und nicht nur zeitgenössischen Klischees lautet: „Worte können nichts ändern“. Ich bin mit dieser Einschätzung nicht ganz einverstanden.

Manchmal trägt Literatur, und nicht einmal unbedingt erstklassige Literatur, direkt zum gesellschaftlichen Wandel bei: So trug Harriet Beecher Stowe zur Abschaffung der Sklaverei bei, Emile Zola und Charles Dickens halfen, die Aufmerksamkeit auf die Not der Beleidigten und Unterdrückten in der industrialisierten Welt zu lenken, während Alexander Solschenizyn half, Stalins Gulag zu zerstören. Aber was noch wichtiger ist: Die Literatur verändert allmählich unsere Sprache und damit auch unsere Wahrnehmung des Lebens. Mit anderen Worten: Sie hebt die Menschheit auf eine neue Entwicklungsstufe.

Nach Proust sehen wir Paris in einem neuen Licht, als einen Speicher der Erinnerung, nach der Lektüre von Joyce bekommt Dublin etwas in alle Richtungen Veränderliches, nach Kafka und Marina Zwetajewa zeigt sich Prag als eingemauertes Labyrinth.

Den Status quo in Frage stellen

Nicht jeder Schriftsteller hat die Fähigkeit, unsere Wahrnehmung auf diese Weise zu erneuern (obwohl man danach streben sollte). Außerdem ist nicht jeder in der Lage, dem Bösen zu widerstehen. Aber man kann zumindest den Status quo in Frage stellen und versuchen, einen Dialog zu beginnen und für einen höheren Standard des intellektuellen Lebens zu sorgen.

Man kann und sollte in der Welt der Kollektive ein Skeptiker bleiben und sich gegen aufgezwungene, „unumstößliche Wahrheiten“ wehren. Schließlich kann und sollte man sich gegen ungerechte Kriege, offensichtliche und unter der Decke gehaltene Attentate, Polizeiknüppel, Gefängniszellen und Folter aussprechen. Ich glaube, dass es bei alledem wichtig ist, sich an zwei Regeln zu halten.

Die erste überschneidet sich mit der medizinischen Maxime des primum non nocere: Als erstes gilt es, niemandem Schaden zuzufügen. Das heißt, kein einziges Wort zu schreiben oder zu sagen, das Metzeleien befördern könnte. Die zweite Maxime lautet: Beginne immer mit dir selbst, nicht mit deinem Gegner.

Vielleicht bedarf diese zweite Regel einer ausführlicheren Erklärung: Viele würden sagen, dass man den Hauptschuldigen deutlich benennen sollte: den Revanchismus, die böswilligen Ambitionen eines Systems, das es nicht geschafft hat, demokratisch zu werden und imperialistisch geblieben ist.

Ich stimme auch darin überein, dass die Hauptschuld bei den jeweils Mächtigeren liegt – sie tragen nun einmal eine größere Verantwortung. Aber Wirkung und Ursache lassen sich auch umgekehrt betrachten. Deshalb sollte man seine Landsleute nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Das Gefühl der Würde eines Landes muss keineswegs auf übertriebenem Stolz beruhen.

Die Stimme der Kultur stärken

Die Nationalismen, die in Osteuropa recht weit verbreitet sind, stellen die Liebe zum Vaterland und zur Nation höher als alle anderen möglichen Tugenden – höher als Vernunft, Gerechtigkeit und Empathie. In der Tat ist es wichtig, in welchem Land man geboren wird und aufwächst, es geht um Landschaft, Sprache, Geschichte, die Erinnerung an vergangene Generationen und die Erwartung von kommenden.

Aber wenn Schicksal, Erziehung oder sogar die freie Wahl einen an dieses und eben nicht ein anderes Land binden, dann sollte man vor allem danach streben, die Stimme des eigenen Landes als Teil einer universellen Symphonie hörbar zu machen.

Es sollte nicht die Stimme der Artillerie, von Raketen oder Bombern sein, sondern die Stimme der Kultur. Man sollte überdies so weit wie möglich versuchen, die Fehler seines Landes, oft schwerwiegende Fehler, zu korrigieren. Unerschütterliche Kritik von seinesgleichen ist besser als Schönfärberei oder – schlimmer noch – die Verherrlichung von Lastern.

Das eigene Land zu lieben, bedeutet, sich allen Versuchen der Selbstisolierung zu widersetzen, denn Isolierung heißt, sich aus der Geschichte zu entfernen. Sein Land zu lieben bedeutet, dem Hass zu widerstehen und in jeder Krise einen klaren Kopf zu bewahren.

Tomas Venclova

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