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Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos.

© Elias Marcou/Reuters

Deutschland nimmt Geflüchtete aus Lesbos auf: Warum es bei 47 Kindern geblieben ist - und das für Streit sorgt

Die Zustände im Camp Moria auf Lesbos sind katastrophal. Aber auch in Deutschland ist das Corona-Risiko in den Heimen groß. Das bremst die Hilfsbereitschaft.

Von Matthias Meisner

Für Kritikerinnen wie die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke ist es „ein Armutszeugnis“: Gerade mal 47 Flüchtlingskinder hatte Deutschland Mitte April nach langem Gezerre aus den völlig überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln aufgenommen. Vor allem aus dem Camp Moria auf der Insel Lesbos, in dem mehr als 20.000 Geflüchtete hausen, obwohl es nur für etwa 3000 ausgelegt war.

Angepeilt waren allein für Deutschland einmal 350 - aber es ist nicht absehbar, ob und wann weitere Geflüchtete kommen werden. Im Gegenteil: Eine Aufstockung ist aktuell vor dem Hintergrund der Coronakrise sogar mehr als fraglich.

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Jetzt stellt sich heraus: Ein großer Teil der, wie Jelpke sagt, „mit großer humanitärer Geste aufgenommenen unbegleiteten Flüchtlingskinder“ hätten nach der Dublin-Verordnung ohnehin nach Deutschland gebracht werden müssen, weil es hier Verwandte gibt, die sich um sie kümmern können. Konkret 18 der 47 hatten in Deutschland lebende Verwandte. Aber nur für acht wurde ein formelles Übernahmeersuchen gestellt, wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage von Jelpke mitteilte. Und selbst bei diesen acht sah die Bundesregierung zunächst die Voraussetzung für ein solches Ersuchen nicht erfüllt.

In der Regierungsantwort heißt es: „Aus welchen Gründen die zuständigen griechischen Behörden sich in den verbleibenden (zehn, die Redaktion) Fällen zuvor gegen ein Ersuchen an die Bundesrepublik entschieden haben, ist vorliegend nicht bekannt.“

Doch Jelpke will das dem von Horst Seehofer geführten Ministerium so nicht durchgehen lassen: Aus ihrer Sicht illustriert die Regierungsantwort unfreiwillig, wie die Bestimmungen zur Familienzusammenführung in der Praxis vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ausgehebelt würden. „Statt akribisch nach Ablehnungsgründen zu suchen, müssen die Dublin-Regeln unbürokratisch angewandt werden, um den Schutzsuchenden zu helfen und Griechenland zu entlasten“, verlangt Jelpke.

Linke: Aufnahmezusagen einfach nur schäbig

In einem Arbeitspapier der Linksfraktion heißt es: „In vielen Fällen dürften entsprechende Ersuchen aber auch deshalb (noch) nicht gestellt worden sein, weil die Aufnahmebedingungen in den Hotspots desaströs sind und viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in dem Chaos vor Ort nicht entsprechend informiert und beraten wurden, dass sie bestehende familiäre Bindungen zu anderen Ländern gegenüber den griechischen Behörden formal geltend machen können und dabei auch bestimmte Fristen beachten müssen.“ Auch bei den griechischen Behörden werden Mängel und Versäumnisse im Verfahren vermutet.

Nach Angaben der Fraktion gab es im vergangenen Jahr 1400 Fälle, in denen Deutschland eine Übernahme im Rahmen der Familienzusammenführung verweigert habe, obwohl dies nach Auffassung der griechischen Behörden eigentlich erforderlich gewesen wäre - 70 bis 80 Prozent der griechischen Übernahmeersuchen seien zurückgewiesen worden. „Die ohnehin viel zu geringen Aufnahmezusagen sind vor diesem Hintergrund einfach nur schäbig“, erklärt die Linken-Politikerin Jelpke mit Blick auf die 47 zunächst nach Niedersachsen ausgeflogenen Kinder, die später auf verschiedene Bundesländer verteilt wurden.

EU-weit hatte es Aufnahmezusagen für 1600 Geflüchtete aus den Camps auf Lesbos, Chios und Samos gegeben. Tatsächlich nahm neben Deutschland zunächst nur Luxemburg weitere Kinder auf, zwölf an der Zahl. Ein paar hundert weitere Geflüchtete wurden wegen der katastrophalen hygienischen Bedingungen in Camps wie Moria aufs griechische Festland verlegt.

Verbreitung wie auf Kreuzfahrtschiffen

Einig sind sich alle Experten: Ein Corona-Ausbruch in den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln könnte zu einem Massensterben führen. Nur: Das Argument Corona wird auch von denen angeführt, die bei der Aufnahme neuer Flüchtlinge in Deutschland bremsen.

Anfang April beispielsweise hatte Sachsen-Anhalts Innenminister und CDU-Landeschef Holger Stahlknecht die Forderung der Landes-SPD nach der Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen als „deplatziert“ zurückgewiesen: Eine Übersiedlung der Geflüchteten sei „weder politisch noch gesundheitlich tragbar“, twitterte er. Stahlknecht begründete das so: „Unser Fokus liegt darauf, das tägliche Ansteigen der Covid-19-Zahlen zu verlangsamen und unsere Bevölkerung zu schützen.“

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Im März hatte die Coronakrise die deutschen Flüchtlingsheime erreicht. Der erste Fall bundesweit wurde aus dem Heidelberger Ankunftszentrum gemeldet. Ende April gab es allein in den Unterkünften des BAMF mehr als 300 Infizierte - damals wurde aus Bayern der erste Asylbewerber gemeldet, der nach einer Corona-Erkrankung gestorben ist.

„Die Zeit“ berichtet in ihrer neuen Ausgabe, dass die Zahl der Infizierten inzwischen dramatisch weiter gestiegen ist. Laut einer Studie unter Leitung des Forschers Kayvan Bozorgmehr von der Universität Bielefeld verbreitet sich das Virus in Asylunterkünften ähnlich schnell wie auf Kreuzfahrtschiffen.

Zu den am stärksten betroffenen Bundesländern zähle Bayern, wo mitunter je mehr als tausend Asylbewerber in sogenannten Anker-Zentren untergebracht sind. Laut bayerischem Innenministerium haben sich dort bislang 1486 Menschen in Asylunterkünften mit Corona infiziert. 20 Einrichtungen stünden derzeit unter Quarantäne. In Regensburg seien innerhalb einer Woche derart viele Flüchtlinge positiv auf Covid-19 getestet worden, dass die Obergrenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner deutlich überschritten worden sei.

Mahnwache in Kassel mit der Forderung nach der Evakuierung des Flüchtlingscamps Moria auf Lesbos.
Mahnwache in Kassel mit der Forderung nach der Evakuierung des Flüchtlingscamps Moria auf Lesbos.

© imago images/Hartenfelser

165 Infizierte wurden aber beispielsweise auch aus einem Heim in St. Augustin bei Bonn gemeldet - 152 Bewohner und 13 Mitarbeiter. Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, sagt: „In allen Bundesländern gibt es große Flüchtlingseinrichtungen. Ob dort die Pandemie ausbricht oder nicht, ist reiner Zufall.“

Der fehlende Abstand vor allem in Massenunterkünften wird zum tödlichen Risiko - und deshalb erstritten Asylsuchende beispielsweise in Sachsen vor Gericht ihre Verlegung in kleinere Herbergen. Am Mittwochabend demonstrierten in Leipzig Asylsuchende aus sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen gegen die Zustände: Die Einrichtungen seien völlig überfüllt, die Bedingungen gerade in der Corona-Pandemie untragbar.

Koalitionsstreit um Landesaufnahmeprogramme in Berlin und Thüringen

Vor diesem Hintergrund läuft auch die Diskussion über die Aufnahme weiterer Geflüchteter von den griechischen Inseln. Zwar debattieren unter anderem die rot-rot-grünen Landesregierungen von Berlin und Thüringen über Landesaufnahmeprogramme, um Geflüchtete in insgesamt vierstelliger Zahl in eigener Regie zu holen.

Doch zum Beispiel im Erfurter Kabinett wurde eine Entscheidung am vergangenen Dienstag erneut vertagt. Grünen-Fraktionschefin Astrid Rothe-Beinlich nannte es anschließend „völlig unverständlich, warum von der SPD geführte Häuser diese Landesaufnahmeanordnung weiter hinauszögern“.

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Der stellvertretende Chef des DGB-Bezirks Hessen-Thüringen, Sandro Witt, twitterte, wenn Menschenwürde zentrale Triebkraft einer Regierung sei, müssten sich beim Retten von Menschen aus dem absoluten Elend auch finanziell tragfähige Lösungen finden lassen. Doch Finanzministerin Heike Taubert (SPD) entgegnete ihm: „Wer von euch ist dauerhaft zum Verzicht an konkreter Stelle bereit?“ Zuvor hatte ein Chefgespräch zwischen Taubert und Justizminister Dirk Adams, der den Entwurf für eine Landesaufnahmeanordnung für bis zu 2000 Asylsuchende verfasst hatte, keine Klärung gebracht.

Seehofer weist Forderung von Berlins Innensenator Geisel zurück

Nicht viel weniger kompliziert ist die Lage in Berlin, was ein Landesaufnahmeprogramm angeht. Dort wächst in der SPD der parteiinterne Druck auf Innensenator Andreas Geisel, ein solches Programm zügig in die Tat umzusetzen. Auch die Grünen im Abgeordnetenhaus appellierten an den Innensenator.

Geisel wollte statt dem bisher geforderten Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium die Behörde nur noch „ins Benehmen“ setzen. Er verwies erst vor wenigen Tagen darauf, dass er ein Schreiben an Seehofer mit diesem Anliegen geschickt habe.

Die Antwort liegt nun vor, wie der „Spiegel“ am Mittwoch berichtete. Für Flüchtlingsaktivisten und ihre politischen Unterstützer ist diese ebenso enttäuschend, wie sie erwartbar war. Für die konkret geplanten zusätzlichen humanitären Aufnahmeprogramme einzelner Bundesländer sehe er „aufgrund des Anwendungsvorrangs der Dublin-III-Verordnung vor nationalen Instrumenten wie dem Paragrafen 23 des Aufenthaltsgesetzes und mit Blick auf eine bundeseinheitliche Behandlung keinen Raum“, schrieb Seehofer in seinem dreiseitigen Brief. Mit anderen Worten: Auch an dieser Front sind die Beteiligten wieder bei null.

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