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Aktivisten der globalisierungskritischen Organisation Attac demonstrieren vor dem Bundesministerium. Ein Demonstrant trägt eine Maske mit einem Foto von Bundesgesundheitsminister Lauterbach. Attac fordert die Aussetzung der Patente für Covid-Impfstoffe.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Omikron-Welle als Wendepunkt: Deutschland muss jetzt einer Patentlockerung für Vakzine zustimmen

Der erbitterte Widerstand Berlins gegen eine Teilung von Wissen ist unhaltbar. Die Ampel sollte auch hier Aufbruch wagen. Ein Appell.

Christian Humborg ist Geschäftsführender Vorstand Wikimedia Deutschland e.V., Christian Katzer ist Geschäftsführer deutsche Sektion von Ärzte ohne Grenzen

Die Wikipedia wurde mit dem Ziel gegründet, Wissen mit allen auf der Welt zu teilen und gemeinsam am Wissen der Welt mitzuwirken. Nur so kann Wissen seinen größtmöglichen Nutzen entfalten. Dies lässt sich in der Geschichte beobachten, vor allem in der Phase der Aufklärung, eine der Grundlagen für unsere moderne Gesellschaft.

Werden Wissen und wissensbasierte Güter hingegen gehortet, verknappt, dann zahlen jene Menschen den Preis, die keinen Zugang haben. Das hat uns die Geschichte gezeigt und traurigerweise auch unsere Gegenwart.

Für das Bürgertum waren zumindest in Europa wirtschaftlicher Aufstieg und gesellschaftliche Teilhabe erst möglich, als das Wissen der Welt nicht mehr nur wenigen, sondern vielen zur Verfügung stand. Technischer Fortschritt und medizinische Innovationen kamen dem Allgemeinwohl zugute, so wurden beispielsweise Seuchen eingedämmt.

Heute stehen wir wieder vor einer historischen Aufgabe, ein neues Virus zu besiegen – und versagen bisher, weil Regierungen und Unternehmen ihre gesellschaftlich-historische Verantwortung nicht erkennen.

Geistige Eigentumsrechte fördern die Knappheit in ärmeren Ländern

Wir sehen jeden Tag, dass Menschen in ressourcenschwachen Ländern an Covid-19 sterben. Es fehlt an vielem: an klinischem Sauerstoff, Schutzkleidung für das Gesundheitspersonal, Medikamenten, Tests und schützenden Impfstoffen. Die Knappheit dieser Ressourcen wird unter anderem auch durch die Monopolisierung und eine künstliche Einschränkung ihrer Verfügbarkeit durch Patente und andere geistige Eigentumsrechte befördert.

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Eine vorübergehende Aussetzung des internationalen Patentschutzes und bestimmter anderer geistiger Eigentumsrechte, ein so genannter TRIPS Waiver für medizinische Covid-19 Produkte, würde diese Lage deutlich verbessern. Der Antrag für einen solchen wurde von Südafrika und Indien initiiert. Ohne langwierige Verhandlungen mit den Herstellern könnte die globale Produktion von Arzneimitteln und anderen medizinischen Produkten anlaufen.

Doch der globale Norden hält sein geistiges Eigentum, sprich Wissen, weiter unter Verschluss. Das ist umso frustrierender, als dass es hier – im Wortsinn – nur eines Federstreiches bedürfte, um die Voraussetzungen für bessere Verfügbarkeit dieser lebensnotwendigen Güter zu schaffen.

Biontech wird 2021 für ein Achtel der deutschen Wirtschaftsleistung verantwortlich sein

Ausgerechnet Deutschland war bisher ein erbitterter Gegner des TRIPS Waivers. Damit stellt Deutschland eigene wirtschaftliche Interessen klar über die globalen Gesundheitsbedürfnisse. Der Grund liegt auf der Hand – zwei große Akteure im Bereich der mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 haben hier ihren Sitz, Biontech und Curevac. Allein das Mainzer Unternehmen Biontech wird voraussichtlich für ein Achtel des deutschen Wirtschaftswachstums in diesem Jahr verantwortlich sein, eine gigantische Summe. Ebenfalls gigantisch ist die Förderung aus öffentlicher Hand, die beide Unternehmen erhalten. Trotz öffentlicher Gelder und Not der Weltgemeinschaft halten die betroffenen Pharmaunternehmen ihr Wissen unter Verschluss. Gleichzeitig werden exorbitante Gewinne mit dem Impfstoff gemacht.

Neu ist diese Dynamik leider nicht. Ärzte ohne Grenzen prangert seit über zwanzig Jahren ein Marktversagen und eine systematische Ungleichheit im Bereich medizinische Forschung und Entwicklung an. Denn auch vor Covid-19 hatten Milliarden Menschen weltweit keinen ausreichenden Zugang zu lebensrettenden Medikamenten und Impfstoffen. Entweder weil die Preise für sie unbezahlbar waren (und bis heute oft sind).

Oder weil gar keine Medikamente zur Verfügung standen und stehen. Denn gegen Krankheiten, die vor allem ärmere Menschen betreffen, wird kaum neues Wissen generiert, kaum in Forschung und Entwicklung investiert. Der fehlende Impfstoff gegen Covid-19 ist insofern nur ein Kapitel in einer traurigen, sich immer wiederholenden Geschichte.

Südafrika hat sein Wissen mit der Welt geteilt

Es kann auch anders gehen: Jüngst waren es südafrikanische Forscher*innen, die ihr Wissen über die neue Omikron-Variante mit der Welt teilten, auch wenn das zu Reisebeschränkungen führte, die die südafrikanische Wirtschaft hart treffen werden. Deutschland profitiert von Südafrikas Fähigkeit im Bereich der Gensequenzierung, die das Land im Zuge der HIV-Pandemie aufgebaut hat, und doch will man den Impfstoff weiterhin nur selbst herstellen.

Omikron kann und sollte nun ein Wendepunkt für die Debatte sein. Wir müssen spätestens jetzt anerkennen, dass Offenheit und geteilter Zugang zu Wissen der einzige Weg aus der Pandemie ist, und wir ihn nur gemeinsam gehen können. Wann, wenn nicht jetzt, muss die Politik umdenken und sich auf die Werte besinnen, die Fortschritt und unser modernes Leben überhaupt möglich machen?

Die Welt beobachtet nun gespannt, wie sich die neue deutsche Regierung hierzu positioniert. Für ein “weiter so” des Egoismus, oder für einen innovativen, mutigen und solidarischen Neubeginn. Mehr als 140 ehemalige Staats- und Regierungschefs und Nobelpreisträger*innen haben sich vor der Bundestagswahl in einem Offenen Brief an die Kandidat*innen um die Kanzlerschaft gewandt, sich hinter die Initiative von Indien und Südafrika zu stellen. Zu den Unterzeichnenden zählen etwa der ehemalige französische Präsident Francois Hollande, die Friedensnobelpreisträgerin Leymah Roberta Gbowee und der Ökonom Joseph Stiglitz.

Die neue Koalition verspricht im Titel ihres Vertrages, mehr Fortschritt zu wagen. Sie muss dieses Versprechen nun auch im Kampf gegen die Pandemie einlösen: freier Zugang zu lebensrettendem Wissen, gerechte Verteilung der Impfstoffe weltweit. Ein neuer Ansatz in internationaler Solidarität, statt nationalem Egoismus.

Wikimedia Deutschland und Ärzte ohne Grenzen rufen gemeinsam die neue Bundesregierung dazu auf, die Blockadehaltung zum TRIPS Waiver aufzugeben und sich für einen umfangreichen Wissens- und Technologietransfer einzusetzen. Es darf jetzt keine weitere Zeit vergeudet werden, um global die Produktion von allen Produkten auszuweiten, die nötig sind, um die Pandemie zu beenden. Fest steht: Diese Pandemie ist erst vorbei, wenn sie für alle vorbei ist. Der gerechte Zugang zu Wissen und Technologie spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Christian Humborg, Christian Katzer

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