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Herz der Demokratie: das Reichstagsgebäude in der Hauptstadt Berlin.

© Lukas Schulze/dpa

Bonn-Berlin-Debatte: Deutschland ist östlicher, nördlicher und protestantischer

Der Streit um die Bundeshauptstadt war vor 25 Jahren auch einer um die Deutungshoheit - die bis dahin vom deutschen Westen und Süden geprägt war. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Nein, um die Hauptstadt ging es nicht, heute vor 25 Jahren im Bundestag in Bonn, in dessen provisorischem Quartier im alten Wasserwerk.

Berlin als Hauptstadt war festgeschrieben im Vertrag über die Deutsche Einheit, in Kraft getreten am 3. Oktober 1990. Am 20. Juni 1991 ging es um mehr. Es ging darum, ob dieser Begriff Hauptstadt eine dekorative, aber lediglich repräsentative Hülle bleiben würde, oder das Gefäß für alles werden, was die entscheidenden Funktionen einer Hauptstadt in einem demokratischen Staat ausmacht: Wo tagt das Parlament, wo arbeitet der Bundeskanzler, wo die Ministerien.

Das erklärt die Verbissenheit und die Leidenschaft, mit der fast zwölf Stunden lang debattiert wurde, einen halben Tag lang. Mehr als hundert Abgeordnete meldeten sich zu Wort, und eine noch größere Anzahl gab aus Zeitmangel ihre Argumente zu Protokoll. Es war, das zeigt sich im Nachhinein, das letzte Aufbegehren der alten Machteliten, all jener, die das Räderwerk der zu recht so hoch gepriesenen Bonner Republik am Laufen gehalten hatten. Jene Männer und Frauen aus dem Westen und dem Süden des vereinten Landes, die nun um die Deutungshoheit über ihr politisches Erbe und den Einfluss auf die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft bangten.

Zukunfts-Zentrum oder "kräftiger Bundesstaat" - das war die Frage

Zwei Beiträge machten die Spannweite der politischen Ziele deutlich, zwischen denen es keinen Kompromiss geben konnte. Wolfgang Schäuble kam schon im vierten Satz seiner Rede auf das Wesentliche: „Ich glaubte, in den 40 Jahren, in denen wir geteilt waren, hätten die Allermeisten von uns auf die Frage, wo denn Parlament und Regierung sitzen werden, wenn wir die Wiedervereinigung haben, die Frage nicht verstanden und gesagt: selbstverständlich in Berlin.“ Und ergänzte später: „Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig. Aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands.“

Norbert Blüm schien an das Mitleid zu appellieren, als er sagte: „Lasst dem kleinen Bonn Parlament und Regierung.“ Aber der Kern seiner Rede war hochpolemisch: „Wir haben uns nicht zum Deutschen Reich vereint, sondern zu einem kräftigen Bundesstaat.“

Deutschland wurde nicht zentralistischer - nicht einmal weniger bayerisch

Das wirkte schon wie eine Anleihe bei der schwarzen Pädagogik: Mit dem Unheil drohen, um die Ungehorsamen zu disziplinieren. Tatsächlich ist das von Berlin aus regierte Deutschland nicht zentralistischer geworden, als es die alte Bundesrepublik war. Aber das Land veränderte sich, wurde, wie der CDU-Politiker Volker Rühe formulierte, östlicher, nördlicher und protestantischer. Dass dies zwanghaft so kommen würde, ahnten vor allem die CSU-Abgeordneten, von denen 40 der 48 für Bonn plädierten. Tatsächlich aber hat sich der Einfluss Bayerns auf die Bundespolitik nicht verringert.

Was sich geändert hat, hängt weniger mit Berlin als mit der veränderten global-politischen Lage zusammen. Das vereinte Deutschland kann zu internationalen Krisen nicht auf Distanz gehen. Dazu ist das Land zu groß und vor allem in Europa zu dominierend geworden. Auch eine aus dem rheinischen Bonn regierende Kanzlerin hätte keine andere Politik machen können.

Für die Sensibilisierung der Politiker und die Befindlichkeit der Bürger indes spielt es sehr wohl eine entscheidende Rolle, ob sich das Machtzentrum der Demokratie an der Peripherie oder in der Mitte des Landes befindet.

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