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Populistische Einstellungen sind zunächst gestoppt.

© Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/dpa

Deutliche Trendumkehr: Der Populismus ist rückläufig – wie passt das zu den Corona-Protesten?

Zwei Wissenschaftler staunten selbst, als sie die Daten sahen: Populistische Einstellungen gehen zurück. Wie kann das sein? Ein Gastbeitrag.

Wolfgang Merkel ist Professor em. am Wissenschaftszentrum Berlin WZB und zurzeit Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen. Robert Vehrkamp ist Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung und vormals Gastwissenschaftler am WZB.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Populismus. Verschworen gegen die alten Mächte Europas und ihre Parteien, hat es sich aufgemacht zu einer Hetzjagd gegen die liberalen Werte der Demokratie.

Mit diesen Worten haben wir am 14. Oktober 2018 einen Artikel im Tagesspiegel begonnen, der über den anschwellenden Bocksgesang populistischer Versuchung alarmierte. Das von der Bertelsmann-Stiftung und dem Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) verantwortete „Populismusbarometer“ berichtete damals auf der Grundlage wissenschaftlicher Umfragen eine signifikante Zunahme (rechts-)populistischer Einstellungen unter den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland.

Zwei Jahre später ist dieser Tage das neue Populismusbarometer 2020 erschienen.

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Als wir jüngst die Antworten von mehr als 10.000 Befragten, erhoben in mehreren Umfragewellen seit 2018, auswerteten, rieben wir uns die Augen. Der Blick öffnete die Sicht auf das Hauptergebnis der Analyse: Bereits seit 2019 ist eine sich deutlich abzeichnende Trendumkehr zu beobachten. Die Verbreitung populistischer Einstellungen in der bundesdeutschen Bevölkerung ist im Herbst 2020 nicht nur gestoppt, sondern stark rückläufig.

Was sind die Gründe dafür? Wie passt das zu den Corona-Protesten? Was macht das mit unserer Demokratie?

Phänomen nicht verschwunden, aber gestoppt

Einige Fakten: Gegenwärtig sind nur noch zwei von zehn Wahlberechtigten (20,9 Prozent) eindeutig populistisch eingestellt, ein Rückgang von mehr als einem Drittel seit November 2018, damals noch 32, 8 Prozent. Nur 31,4 Prozent der Wähler zeigten sich als klar unpopulistisch. Heute sind es 47,1 Prozent, ein Anstieg um etwa die Hälfte.

Der Trend ist klar: In der erwachsenen Bevölkerung gibt es 2020 nicht nur deutlich weniger populistische Einstellungen, sondern es sind auch signifikant mehr Wähler unpopulistisch eingestellt. Damit ist das Phänomen Populismus in Deutschland nicht verschwunden, sein Aufstieg aber zunächst gestoppt. Der Populismus ist in die Defensive geraten.

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Diese Trendwende wurde nicht durch Covid-19 verursacht, sie setzte früher ein. Das Virus, vor allem aber die Handlungsstärke der Regierung im Umgang mit ihm, haben den antipopulistischen Trend stabilisiert und verstärkt.

Warum kam es zu dieser Trendwende? Als erste und wohl wichtigste Ursache der Trendumkehr lässt sich nach 2018 eine „Mobilisierungserschöpfung“ des Flüchtlings- und Migrationsthemas erkennen.

Die Zuwanderung wurde auf ein Maß heruntergeschraubt, das die Ängste und Ressentiments unter den populismusaffinen Teilen der Bevölkerung reduzierte. Die harte Ablehnung von Migration und Asyl durch extrem rechts eingestellte Bevölkerungsgruppen blieb davon unberührt. Die gute Wirtschaftskonjunktur und erste Beschäftigungserfolge von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt wirken ebenfalls gegen rechtspopulistische Stimmungsmacher und Systemkritiker.

Eine Erklärung für den Rückgang populistischer Einstellung ist eine Mobilisierungserschöpfung

Die zweite Ursache liegt im Staatshandeln bzw. der Präsentation des Staates selbst. Mit dem Abklingen der Migrationskrise erscheint der Staat vielen Menschen wieder handlungsfähiger. Er gewinnt das Vertrauen mancher Bürger in seine Steuerungsfähigkeit zurück. Populismus braucht aber einen schwachen Staat als Projektionsfläche. Effektive Staatlichkeit entzieht dem Rechtspopulismus einen Teil seiner Argumente, wenn nicht gar eine tragende Säule seines Geschäftsmodells.

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Drittens haben Zivilgesellschaft, Staat, Parteien und Medien in Deutschland eine vitale Reaktion der demokratischen Selbstbehauptung gezeigt. Wurde in Deutschland jemals mehr für Demokratie demonstriert als in den vergangenen Jahren?

Hat je ein Bundespräsident die Herausforderungen der Demokratie zu seinem Hauptthema gemacht? Ist nicht die AfD zum Paradebeispiel des ad excludendum geworden? Dies waren notwendige, starke Signale, der populistischen Versuchung nicht nachzugeben. Das war keine Republik ohne Republikaner, sondern ein Stück demokratischer Antipopulismus.

Sowohl der Staat als auch die Zivilgesellschaft haben auf die Migrationskrise und die populistische Welle gut reagiert

Viertens, die weitere Radikalisierung der AfD-Führungseliten und ihre Flügelkämpfe schrecken die bürgerlichen Teile der rechtspopulistischen Anhängerschaft ab. Sie besinnen sich mehr ihrer bürgerlichen Wurzeln als ihrer neo-populistischen Attitüden. Die internationale Szene trug ebenfalls zu einer Rückbesinnung der bürgerlichen Populisten bei.

Wachsende Misserfolge der Rechtspopulisten in Westeuropa, in Österreich, den Niederlanden und Dänemark oder beunruhigende autoritäre Systemveränderungen in Ungarn und Polen sowie das Desaster in Washington oder Brasilia reflektieren, was Populisten an der Macht bedeuten können. Das ist nicht mehr die globale Aufbruchsstimmung des Rechtspopulismus, wie sie sich unmittelbar nach 2015 gezeigt hat.

Die bürgerliche Mitte war in der Geschichte schon immer anfällig für Avancen von rechts. Jetzt besinnt sie sich

Eine entscheidende Variable für Erfolg und Misserfolg des Rechtspopulismus ist die politische Positionierung der gesellschaftlichen Mitte. Das ist nicht neu in der deutschen Geschichte. Historiker von Karl Dietrich Bracher bis Paul Nolte haben stets auf die politische Prekarität der bürgerlichen Mitte verwiesen und ihre Anfälligkeit für rechtsautoritäre Angebote betont.

Das wirkte in Weimar wie in den 1950er Jahren der Adenauer-Ära. Offen lässt Nolte etwa, ob es kulturpessimistische Angehörige der bürgerlichen Mitte sind, die für die rechtspopulistische Versuchung besonders empfänglich sind, oder aber Teile des Bürgertums, die nicht nur, aber auch gerade aus Ostdeutschland in der bundesrepublikanischen Mitte nie angekommen sind.

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Aber wie prekär, fragil und verloren ist diese Mitte? Wie feindselig geht es dort wirklich zu? Unsere neueren Analysen geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Der Populismus ist in der Mitte angeschwollen. Nun schwillt er genau dort auch wieder ab. Die Versuchung bleibt allerdings latent. Populistische Einstellungen verschwinden nie ganz. Sie bleiben aktivierbar.

Die Gefahr der populistischen Mobilisierung besteht weiter - ihre Eindämmung ist aber immerhin vorerst gelungen

Die populistische Herausforderung bleibt eine Signatur der Zeit, auch in Deutschland. Digitalisierung und „Social Media“ spielen dabei eine Rolle. Zum anderen aber auch die „Singularisierung“ und Segmentierung unserer Gesellschaft. Die populistische Mobilisierung ist hier einfacher als in einer durch feste Strukturen und traditionelle Bindungen geprägten Gesellschaft. Die zunehmende Bindungslosigkeit oder Haltlosigkeit in der digitalen Moderne ist ein säkularer Grund dafür, dass der rechte Populismus in den vergangenen Jahren zu einer prägnanten Signatur des demokratischen Zeitalters im 21. Jahrhundert geworden ist. Die in Deutschland sichtbare Trendumkehr der Populisierung wird diese Signatur nicht löschen. Ihre Eindämmung scheint aber vorerst gelungen – immerhin.

Was bedeutet das für die Bundestagswahl 2021?

Wenn der Aufstieg des (Rechts-)Populismus in Deutschland gestoppt ist, was bedeutet das für die Bundestagswahl 2021? Wer profitiert? Wer verliert? Unsere Daten sprechen dafür, dass vor allem die AfD verlieren wird. Die politische Mitte als Rekrutierungsreservoir der Rechtspopulisten trocknet zunehmend aus. Die Radikalisierung eines sichtbaren Teils der Führungskräfte entzieht der Partei Wähler aus der politischen Mitte. Die offensichtliche Spaltung der Führungsspitze fordert in der politischen Kultur Deutschlands seinen Preis. Führungsdissens wurde noch stets mit Wählerverlusten bestraft. Setzt die AfD ihren Kurs zum Rechtsextremismus fort, betreibt sie ihren eigenen Suizid als relevante Partei.

Für eine rechtsextreme Partei oberhalb der Zehn-Prozent-Wählergrenze ist in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor kein Platz. Fast sechs von zehn Wählern der AfD sind inzwischen latent oder manifest rechtsextrem eingestellt. Aus der rechtspopulistischen Mobilisierungsbewegung der Jahre 2016/17 ist längst eine durch rechtsextreme Einstellungen geprägte Wählerpartei geworden.

Ein weiterer Verlierer könnten die Freien Demokraten werden, sollten sie sich nicht sichtbarer von rechtspopulistischen Versuchungen befreien und ihre politische Stärke als Garant und Verteidiger des liberalen Rechtsstaats wieder zentraler stellen. Gerade in Zeiten illiberaler Versuchungen liegen hier beachtliche Potenziale. Für die Partei, aber auch die Demokratie.

CDU und CSU haben ihre Lektion gelernt

Auf dem Hintergrund unserer Daten deuten sich zwei große Gewinner des antipopulistischen Trends an. Die Union wird vom Rückfluss konservativer Mittewähler profitieren, wenn sie sich nicht selbst einer populistischen Politik verschreibt. Sie hat damit experimentiert, ist nach dem Aufstieg der AfD der populistischen Versuchung gefolgt, wurde dafür an der Wahlurne abgestraft und hat ihre Lektion (vorerst) gelernt.

Die Unionsparteien haben in der Mitte ein Vielfaches von dem zu verlieren, was es am rechten Rand für sie zu gewinnen gäbe. Handelt sie rational, wird sie es nicht noch einmal versuchen. Zumal der Populismusschwund in der Mitte die Sirenen der populistischen Versuchung verklingen lässt.

Der zweite Gewinner dürften die Grünen sein. Sie sind die antipopulistische Partei par excellence im deutschen Parteiensystem. Das hat ihnen in der unpopulistischen linksliberalen Mitte die Marktführerschaft erobert. Ihre Neigung, dabei von oben zu belehren, trifft das Lebensgefühl ihrer neobürgerlichen Anhängerschaft. Eine Volkspartei dürfte sich einen solchen kosmopolitischen Hochmut nicht erlauben.

Die Pandemie bleibt die große Unbekannte

Für die SPD ergibt sich aus den veränderten Populismusdaten nur wenig neue Dynamik. Vieles deutet für die kommende Bundestagswahl auf eine Bestätigung des status quo ante hin. Allerdings muss klar sein, populistische Einstellungen sind nur ein Faktor, der Wahlergebnisse beeinflusst.

Das gilt für die SPD wie für alle anderen etablierten Parteien. Kandidaten, Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung, die Wohnungs- und Europafrage sind wichtiger. Darauf sollte sie sich fokussieren.

Die Partei Die Linke hatte ebenfalls eine Lektion zu lernen. Für linkspopulistische Experimente geht es dem Land offensichtlich noch immer zu gut. Ihre Mobilisierungsversuche in dieser Richtung blieben ohne Resonanz. Auch sie wird es deshalb nicht so schnell noch einmal versuchen. Regierungsfähigkeit statt Linkspopulismus, die neue Mehrheitsdevise in der Partei.

Die große Unbekannte für alle Parteien wird die Entwicklung der Covid-19-Pandemie sein. Die Frage drängt sich auf: Was hat der abschwellende Populismus mit den anschwellenden Corona-Protesten zu tun? Zeigen die Proteste nicht, wie lebendig der Populismus hierzulande ist? Findet dieser nicht gerade ein neues Thema, nachdem die rechtspopulistische „Ressentimentierung“ gegen Flüchtlinge und Zuwanderer sich zunehmend erschöpft hat?

Der rückläufige Populismus ist ein längerfristiger Trend

Der rückläufige Populismus ist ein längerfristiger Trend, die Corona-Proteste sind jüngsten Datums. Ob diese sich zu einem mobilisierenden Trend verdichten, ist offen. Vieles hängt von der Reaktion der politischen Entscheidungsträger ab. Das haben die Corona-Proteste von heute mit 2015 und 2016 gemein.

Damals spielten in den Augen vieler die Kanzlerin, Regierung und Oppositionsparteien wie auch die öffentlich-rechtlichen Medien das Flüchtlings- und Migrationsproblem herunter. „Politik“ und Medien verloren an Überzeugungskraft, nicht nur an den Rändern, sondern auch in der Mitte. Es waren die verunsicherten Teile der Mitte unserer Gesellschaft, die zu einem beachtlichen Rekrutierungsreservoir der Rechtspopulisten wurden.

Dem Populismus fehlt derzeit das Thema - und die Bühne

Und heute? Die Große Koalition der etablierten Parteien könnte dieses Mal den entgegengesetzten Fehler machen. Die Unterwanderungstaktik der radikalen Rechten ist eine ernst zu nehmende Realität und Gefahr. Die Proteste aber darauf zu reduzieren, könnte sich als schwerer Fehler erweisen.

Der Protestmehrheit die Leviten zu lesen, reicht nicht: ‚Wer sich nicht hinreichend abgrenzt von Neonazis, Reichsbürgern und Verschwörungsspinnern, macht sich mit deren Sache gemein. Wird zum nützlichen Idioten.’ Damit öffnet man Diskurse nicht, sondern schließt sie. Teile der prekären Mitte, die gerade dabei sind, sich aus den Fängen des Rechtspopulismus zu lösen, könnten unter dem subjektiven Eindruck der Diffamierung und Ausgrenzung erneut deren Demagogik erliegen.

In ihrer Wahrnehmung hatte man die Flüchtlingsproblematik 2015 heruntergespielt; nun droht man das antidemokratische Potenzial der Corona-Proteste zu überhöhen. Der Effekt könnte der gleiche sein: Die prekäre Mitte re-popularisiert sich. Der Rechtspopulismus fände ein neues Thema, das er skandalisieren kann. Ihm fehlen derzeit Thema und Bühne. Das sollte so bleiben. Unserer Demokratie wird das nur nützen.

Wolfgang Merkel, Robert Vehrkamp

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