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Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml am Donnerstag.

© Sputnik/Aleksey Nikolskyi/Kremlin via REUTERS

Der Krieg in der Ukraine hat globale Folgen: Wir sind Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung

Bei Russlands Großangriff auf seinen Nachbarn geht es um mehr als die Ukraine. Putin will den massiven Bedeutungsverlust Russlands umkehren. Ein Gastbeitrag.

Sigmar Gabriel ist ehemaliger SPD-Vorsitzender und mehrfacher Bundesminister, Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört.

Ohnmächtig müssen Europa und der Westen zusehen, wie Russlands Präsident Wladimir Putin den Frieden in Europa bricht und die Ukraine mit militärischer Gewalt überzieht. Krieg mitten in Europa? Wer hätte sich das noch vor wenigen Monaten vorstellen können?

Jetzt ist nicht die Zeit für Klagen, „der Westen“ habe es mit der „Einkreisung Russlands“ übertrieben. Es geht auch nicht um den von Putin ins Feld geführten Vorwand, er müsse die russische Bevölkerung in den ostukrainischen Separatistengebieten vor einem „Genozid“ und der „faschistischen Regierung in Kiew“ schützen.

Es geht um etwas ganz anderes – die Rückkehr Russlands als Großmacht, und zwar mehr in der Tradition des Zarenreichs als der früheren Sowjetunion. Anders als im Vielvölkerstaat UdSSR will Putin den hegemonialen Anspruch der „einzigartigen russischen Zivilisation“ durchsetzen, hervorgegangen aus den drei ostslawischen Völkern der Russen, Ukrainer und Belarussen.

Putin will, dass Russland wieder europäische Großmacht wird

Wie zur Zarenzeit kennt Putins „russische Nation“ keine eigenständigen Staaten in der Ukraine, Weißrussland und vermutlich auch nicht im Kaukasus und Teilen Zentralasiens. Aus seiner Sicht soll die „russische Nation“ wieder eine europäische Großmacht werden, die über das Schicksal Europas mindestens mitentscheidet. Ganz so wie es die Zaren über Jahrhunderte taten.

Putin will eine Entwicklung rückgängig machen, in der Russland seit dem Untergang der UdSSR 1991 kontinuierlich an Einfluss in Europa verloren hat – und zum Energielieferanten abgestiegen ist. Geopolitisch haben die USA seit 1945 den Westen Europas und seit 1989 ganz Europa dominiert.

Menschen in Kiew suchen Schutz in einem Keller eines Gebäudes, während die Sirenen neue Angriffe ankündigen.
Menschen in Kiew suchen Schutz in einem Keller eines Gebäudes, während die Sirenen neue Angriffe ankündigen.

© Emilio Morenatti/dpa

Moskau spielte keine Rolle. Diesen massiven Bedeutungsverlust will Putin nun umkehren. Und weil Russland weder wirtschaftlich noch politisch attraktiv ist, bleibt „nur“ das Militär, um es wieder als europäische Großmacht zu etablieren.

Putin will die künftige Rolle Europas im Rahmen der Neuordnung der Welt maßgeblich mitbestimmen. Schon lange vor Donald Trumps Präsidentschaft hatten die USA damit begonnen, sich aus ihrer traditionellen Rolle als globale Ordnungsmacht zurück zu ziehen, um sich auf den neuen strategischen Wettbewerb mit China konzentrieren zu können.

Noch ist unklar, wie die neue Weltordnung aussehen wird

Nicht mehr Europa und der Atlantik bilden heute das Gravitationszentrum der Welt, sondern der Indo-Pazifik. Dort lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung, dort wird der Großteil des globalen Sozialprodukts erarbeitet, dort gibt es fünf Staaten mit der Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen.

Mehr zum russischen Angriff auf die Ukraine auf Tagesspiegel Plus:

Wir sind Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtachsen. Noch ist unklar, wie die neue Weltordnung aussehen wird. Mit seinem Einmarsch in die Ukraine hat Putin aber unmissverständlich klargestellt, dass er dabei eine entscheidende Rolle spielen will. Russlands militärisches Engagement reicht inzwischen schon von Zentralasien, dem Kaukasus und dem Nahen Osten bis nach West-Afrika.

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Es geht also um weit mehr als um die Ukraine. Es geht um Putins imperialen Machtanspruch. Europa ist gut beraten, sich diesem Machtanspruch entgegen zu stellen. Denn machtlos ist der alte Kontinent nicht, auch wenn zuletzt erneut der Eindruck entstehen konnte, die europäischen Staats- und Regierungschefs seien froh darüber, dass die USA noch einmal bereit sind, mit Russland über die Zukunft zu verhandeln.

Allzu sicher sollten wir Europäer uns des amerikanischen Schutzschirms ohnehin nicht sein. Wer weiß schon, ob der nächste amerikanische Präsident noch Verantwortung für Europa übernehmen wird. Parteiübergreifend geht der politische Trend in den USA eher in Richtung Isolationismus – sieht man einmal vom Großkonflikt mit China ab.

Für Russlands Eliten ist Krieg nach wie vor ein Mittel der Politik

Putins Überfall auf die Ukraine zeigt: Für Russlands Eliten ist Krieg nach wie vor ein Mittel der Politik. Wir haben zu sehr verdrängt, dass Moskau 2008 mit einem ähnlichen Drehbuch wie jetzt in der Ukraine seinen Nachbarn Georgien überfallen hat. Seit 2014 annektiert Russland nicht nur die Krim, es unterstützt auch die Separatisten in der Ost-Ukraine und führt dort seit acht Jahren Krieg – den es jetzt eskaliert. In Syrien macht Putin mit dem Verbrecher Baschar al-Assad gemeinsame Sache.

Aus guten Gründen werden die USA und Europa der Ukraine nicht militärisch zur Seite stehen. Zu Recht scheut die Nato eine gewaltsame Konfrontation mit dem Atomwaffenstaat Russland. Ein solcher Krieg könnte schnell außer Kontrolle geraten und zu nuklearen Verwüstungen führen. Das weiß auch der russische Präsident.

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Natürlich müssen wir jetzt harte Sanktionen gegen Russland verhängen. Härter und konsequenter als alles, was bisher vorstellbar schien. Weder der Stopp des Erdgasprojekts North Stream II noch das Einfrieren von Vermögen russischer Oligarchen oder die Entkoppelung Russlands vom europäischen und amerikanischen Finanzmarkt werden Putin jedoch zur Umkehr bewegen. Sanktionen sind für Moskau eine „Großmachtsteuer“ – man ist bereit, sie zu zahlen, um wieder ein geopolitischer Machtfaktor zu werden. Außerdem hat Russland mit China einen neuen Partner gewonnen.

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Peking wird den Ukraine-Krieg genau beobachten. Schon mit Blick auf seine konfrontative Taiwanpolitik wir die politische Führung registrieren, ob die derzeitige Einigkeit zwischen Europa und den USA Risse erhält. Peking kann es nur begrüßen, wenn die USA sich vorübergehend auf eine andere als den Indo-Pazifik konzentrieren. Der Krieg in der Ukraine hat globale Folgen.

Wir sind zurück in einer Zeit, in der Europa auch auf militärische Abschreckung setzen muss

Harte westliche Sanktionen gegen Russland sind die einzig mögliche Reaktion auf Putins Bruch des Völkerrechts und des Friedens in Europa. Würden wir nichts tun, wäre das eine Einladung an Moskau, seinem Expansionismus freien Lauf zu lassen. Die drei baltischen Staaten dürfte allein ihre Nato-Mitgliedschaft vor Russlands Aggression schützen.

Aus Sicht der Ukraine rächt sich jetzt, dass das Land 2008 nicht in die Nato aufgenommen wurde. Wer in den vergangenen Jahren an der Sinnhaftigkeit der Allianz und des nuklearen Schutzschilds der USA für Europa gezweifelt hat, sollte jetzt eines Besseren belehrt sein.

Eine Demo vor dem Brandenburger Tor am Donnerstag in Berlin.
Eine Demo vor dem Brandenburger Tor am Donnerstag in Berlin.

© REUTERS/Michele Tantussi

So bitter es ist: Wir sind zurück in einer Zeit, in der Europa auch auf militärische Abschreckung setzen muss. Russland wird nun das erleben, was es angeblich verhindern wollte: die dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen und modernen Waffensystemen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Entgegen der russischen Propaganda gibt es die bisher nicht. Als Konsequenz aus Putins Krieg müssen wir uns wieder wie bis 1989 auf eine lange Grenze einstellen, in der sich die Armeen Russlands und der Nato unmittelbar gegenüber stehen.

Was Europa jetzt am meisten braucht ist Einigkeit. Russland testet uns. Natürlich weiß Putin Bescheid über innere Spaltungen zwischen West- und Osteuropa. Und natürlich kennt er die Abhängigkeit insbesondere Deutschlands vom vergleichsweise billigen russischen Gas. Putin setzt darauf, dass die „verweichlichten westlichen Demokratien“ einen harten Kurs gegen Russland nicht lange durchhalten. Wir müssen ihn eines Besseren belehren.

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