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Während eines kurzen Stadtspaziergangs zum nächsten Termin bekommt Olaf Scholz von Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas Tallinn gezeigt.

© dpa/Alexander Welscher

Putins Nachbarn wollen mehr Hilfe : „Für Frieden in Europa brauchen wir eine deutsche Führungsrolle“

Olaf Scholz hat bei einem Besuch in Estland auch mit den Regierungschefs von Lettland und Litauen gesprochen. Dort findet bald der nächste Nato-Gipfel statt.

| Update:

Beim Landeanflug von Osten auf die estnische Hauptstadt Tallinn ist am Horizont Russland zu sehen. Keine 200 Kilometer sind es von hier bis zur Grenze. Hier im Baltikum, in den drei früheren Sowjetrepubliken, die sich Anfang der neunziger Jahre unabhängig von Moskau erklärt haben, ist die Sorge, dass nach der Ukraine auch sie überfallen werden könnten, nah und real.

„Wir haben viele wichtige Themen zu besprechen vor dem Nato-Gipfel“, sagt die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas, als sie Olaf Scholz am Freitagnachmittag in ihrem Amtssitz auf dem Domberg von Tallinn begrüßt. Es folgt ein Eintrag ins Gästebuch, der Kanzler aus Hamburg freut sich, in einer alten Hansestadt zu Gast zu sein, die früher auf den Namen Reval gehört hat.

Dann aber wird es schnell ernst: Der Krieg in der Ukraine, die Folgen für das westliche Verteidigungsbündnis und die bilaterale militärische Unterstützung stehen im Mittelpunkt der Gespräche.

An die Beistandspflicht erinnert

Vor knapp einem Jahr war Olaf Scholz als Kanzler zum ersten Mal in der Region, in Litauen, wo die Bundeswehr stationiert ist. Schon damals ging es darum, den drei Nato-Mitgliedern zu versichern, dass die Beistandspflicht aus Artikel 5 des transatlantischen Vertrages auch wirklich gilt.

Nun bekommen Kallas sowie Lettlands Premier Arturs Krisjanis Karins und Litauens Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte, die später dazustoßen, erneut eine Vergewisserung dieser Art zu hören. „Wir sind bereit“, sagt Scholz, „jeden Quadratzentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen.“

Das hören die drei baltischen Regierungschefs gern. Sie pochen aber auf weitergehende Zusagen, am liebsten zusätzliche Bundeswehrkräfte. „Wir dürfen auf dem Gipfel nicht nur die neuen Nato-Verteidigungspläne verabschieden, sie müssen auch mit mehr Geld und mehr Truppen auf dem Boden hinterlegt werden“, sagt Simonyte als Gastgeberin des Gipfels von Vilnius in gut sechs Wochen. Ihr Land baue schon die Infrastruktur für mehr deutsche Soldaten.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, der auch die Nato-Ostflanke wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, ist die deutsche Unterstützung bereits deutlich erhöht worden. Die Luftwaffe übernimmt seither mit ihren Eurofightern für alle drei baltischen Staaten das sogenannte Air Policing, eine Art Luftpatrouille am Rande des Bündnisgebietes.

„Wir sind bereit, jeden Quadratzentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen.“

Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Estland

Die Marine zeigt eine größere Präsenz in der Ostsee. Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten auf dem litauischen Militärstützpunkt Rukla ist von 1000 auf 1500 erhöht worden. Die „robuste Kampfbrigade“ mit etwa 3000 Mann, die Scholz schon vergangenes Jahr beim Nato-Gipfel in Madrid zugesagt hatte, entsteht dadurch, dass sich weitere 1500 Kräfte in Deutschland bereithalten und im Ernstfall sofort verlegt werden können. Ihr Gerät ist bereits vor Ort.

Weitergehende Zusagen hat Scholz an diesem Freitag jedoch nicht im Gepäck. Er kündigt lediglich an, dass der in Deutschland stationierte Teil der Brigade in den kommenden Wochen seine eigene Verlegung nach Litauen üben wird. Alles Weitere wie etwa eine zusätzliche Truppenpräsenz müsse im Rahmen der Nato entschieden werden – da ließ sich der Kanzler nicht in die Karten schauen.

Deutscher Raketenschutz für den Gipfel?

Zumindest für den Gipfel selbst wird es aber Unterstützung geben. Litauen hat darum ersucht, das Treffen der Staats- und Regierungschefs am 11. und 12. Juli mit Patriot-Abwehrraketen aus Deutschland zu schützen – passend zum Scholz-Besuch wird die Anfrage am Freitagabend vom Verteidigungsministerium positiv beschieden.

Neue Erkenntnisse zur deutschen Haltung bezüglich eines ukrainischen Nato-Beitritts bringt der Kanzlerbesuch in Tallinn nicht. Klar ist, dass die drei baltischen Regierungschefs ihn erneut dazu gedrängt haben, sich in dieser Frage klarer zu positionieren.

So wie etwa Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Kiews Zukunft in der Allianz sieht und wie die Balten Druck macht in dieser Frage vor dem Gipfel. „Im Sinne der Stabilität brauchen wir die Ukraine in der EU und in der Nato“, sagt auch die estnische Gastgeberin Kaja Kallas.

Der Kanzler lässt sich davon zumindest nach außen hin nicht davon beeindrucken. Er hält für verfrüht, über einen Nato-Beitritt nachzudenken. Erst einmal muss die Ukraine nach seiner Lesart militärisch in eine Lage versetzt werden, um überhaupt konkret über eine Nachkriegsordnung nachdenken zu können – mit Waffen und Munition. „Das ist die Frage, um die es jetzt geht.“

Die Litauerin Simonyte hört das wohl, kontert und sagt, dass es „traurig“ wäre, wenn Kremlherrscher Wladimir Putin den bevorstehenden Nato-Gipfel für sich als Erfolg verbuchen könne, wenn dort keine klare Beitrittsperspektive für Kiew formuliert werden sollte.

Im Baltikum befürchtet man, dass erneut zu klein gedacht wird. Wie nach Russlands Überfall auf Georgien 2008 oder der Einnahme der Krim 2014. „Wir zahlen gerade den Preis für unserer zögerliches Handeln damals“, sagt Lettlands Premier Karins. Kaja Kallas adressiert Scholz direkt: „Für Frieden in Europa brauchen wir eine deutsche Führungsrolle.“

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