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Wer versteht Brüssel?

© imago stock&people

Europäische Union: Der Frust der Föderalisten

Die Europäische Union schlittert von einer Krise zur nächsten. Was macht das mit ihren Machern in Brüssel?

Jetzt funktioniert nicht einmal mehr das W-Lan. Das zweite Krisentreffen in zwei Tagen zum Flüchtlingsdrama, und wieder haben die Journalisten im Brüsseler Ratsgebäude keine Internetverbindung. "Wer ist hier verantwortlich?", lautet die Frage von "New York Times"-Korrespondent James Kanter, der sich entnervt über die EU-Institutionen beschwert, die ja nichts mehr gebacken bekämen.

Dieser Meinung sind viele Amerikaner schon seit den Siebzigern, als Außenminister Henry Kissinger nach einem sprechfähigen Gegenüber samt Telefonnummer verlangte. Auch die Unzufriedenheit der EU-Bürger mit ihrer Union hat in den Krisenjahren stetig zugenommen, wie die zahlreichen Erfolge der EU-Gegner bei Europa- und nationalen Wahlen zeigen. Neu jedoch ist, dass die Bitterkeit auch in Brüssel Einzug hält. Am Sitz der europäischen Institutionen, wo für viele der Beruf auch Berufung ist und der Wunsch groß, das europäische Projekt voranzutreiben, haben Finanz-, Griechenland-, Ukraine- und jetzt die Flüchtlingskrise Spuren hinterlassen.

"Nach außen geht alles seinen gewohnten Gang", erzählt der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold über den Brüsseler Arbeitsalltag – Krise, Lösungsvorschlag der EU-Kommission, Streit darüber, Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Aber gerade die Flüchtlingskrise geht tiefer, betrifft letztlich das Bild, das Europa von den Menschen, einer liberalen Demokratie und sich selbst hat. Daher, so der Grüne, sei inzwischen "auch in Brüssel immer mehr Pessimismus zu hören". Wo ein noch so kleiner Konsens von Verleumdungen und Verletzungen begleitet wird – wie im Sommer zu Griechenland und nun zu den Asylfragen –, steht das große Ganze infrage. "Wenn es nur noch mit der Brechstange geht", sagt beispielsweise der SPD-Abgeordnete Jens Geier, "weiß ich nicht, wie lange das noch gut geht." In 24 Monaten könne der Laden kaputt sein.

Das traditionelle Brüsseler Botschafterfrühstück ist ein guter Gradmesser dafür, wie sich das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander verändert, ja verschlechtert hat. Ganz ohne Assistenten und Protokollanten ist hier immer offen über alle Probleme geredet, ist manches Missverständnis schon im Entstehen ausgeräumt und sind Kompromisse vorbereitet worden. "Manche Kollegen sind in dieser Runde inzwischen auffallend still", erzählt einer aus dem Botschafterkreis, der eines der größeren Länder bei der EU vertritt, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will. "Wir haben Übung im Streiten", sagt er in Anspielung darauf, dass die Gemeinschaft als solche auf Interessenausgleich angelegt ist. "Aber früher waren wir uns immer über das Grundsätzliche einig und haben nur über Ausnahmen, Übergangsregeln oder weichere Formulierungen gerungen." Nun jedoch geht es ans Eingemachte: "Es steht viel auf dem Spiel."

Ein belgischer EU-Beamter hat ganz ähnliche Erfahrungen in den Arbeitsgruppen gemacht, die Ratsentscheidungen auf Fachebene vorbereiten. "Wir Belgier sind die letzten Mohikaner: Wir haben zwar auch unsere Anweisungen, wie weit wir für einen Kompromiss gehen können, bekommen als Verhandler von unserer Regierung aber immer auch ein wenig Spielraum", erzählt der Mittvierziger mit grauen Schläfen und moderner Brille: "Inzwischen lesen viele einfach wieder und wieder die Positionen vor, die ihnen aus den Hauptstädten übermittelt wurde." Harte Fronten statt heimlicher Flexibilität. Wenn es dann keine erfahrene Ratspräsidentschaft gebe wie jetzt zum Glück die aus Luxemburg, die Blockaden überwinden könne, dann gehe eben plötzlich gar nichts mehr. "Mittlerweile sitzt bei fast jedem Thema ein Spinner im Raum, der mit seiner intellektuellen Vollnarkose eine Einigung blockiert – man kommt sich vor wie ein Hamster im Hamsterrad, bei dem es auch nicht wirklich vorangeht." Muss man dazu sagen, dass dieser Beamte frustriert ist?

Auf der anderen Straßenseite vom Ratsgebäude sind sie in Sachen Europa schon von Rechts wegen zum Optimismus verpflichtet. "Die EU-Kommission fördert die allgemeinen Interessen der Union und ergreift geeignete Initiativen zu diesem Zweck", heißt es in Artikel 17 des EU-Vertrags. Wie ernst die Lage ist, weiß aber auch ihr Präsident Jean-Claude Juncker. Als er im Vorjahr sein Amt antrat, sprach er davon, die "Kommission der letzten Chance" anzuführen. Das war noch, bevor der Streit mit Griechenland und die Lage an Europas Grenzen eskalierte. "Ich weiß nicht, ob er damals wusste, wie wahr seine Aussage sein würde", sagt nun Währungskommissar Pierre Moscovici aus Frankreich, als er ein Jahr später im zehnten Stock des Berlaymont-Gebäudes über die Lage sinniert: "Wir als Kommission müssen nun mehr denn je Brückenbauer sein und Lösungen anbieten."

Nach außen mag die Brüsseler Behörde verkünden, verstanden zu haben und fortan alles besser machen zu wollen – auf den Apparat schlägt das in dieser Lage aber noch nicht durch. "Ich würde jetzt nicht von totaler Lethargie oder Fatalismus sprechen, aber von Aufbruchstimmung kann auch keine Rede sein", sagt einer, der in der Generaldirektion arbeitet, die den digitalen Binnenmarkt vorantreiben soll. "Mehr als eine große Ankündigung haben wir da doch noch nicht hinbekommen."

Der Frust ist besonders groß bei den Föderalisten, die in einem Bundesstaat, in den Vereinigten Staaten von Europa, die Lösung sehen. Bei Philippe Lamberts etwa, dem Fraktionschef der Grünen im Europaparlament. Der Belgier steht zu seiner Überzeugung, obwohl sich aus seiner Sicht "alles in die andere Richtung bewegt" und der Zweifel an ihm nagt. "Viele meiner Wähler stellen infrage , ob ich überhaupt noch die Möglichkeit habe, Europa in eine andere Richtung zu verändern", sagt Lamberts, dessen Fraktion nur 50 von 751 Europaabgeordneten stellt, "und vielleicht haben sie recht."

Der SPD-Mann Jo Leinen gehört zur sogenannten Spinelli-Gruppe, die für ein vereintes Europa streitet. Nie hätte er gedacht, in seiner Heimatstadt Saarbrücken je wieder Grenzkontrollen in Richtung Frankreich erleben zu müssen – nun ist es so weit: "Es geht ans Eingemachte, weil jeder nur noch an sich denkt und nicht mehr an den gemeinsamen Mehrwert." Der Europaabgeordnete konstatiert eine "Orientierungslosigkeit, wie es mit dem Projekt Europa weitergehen soll". Dessen Gegner befänden sich in der Offensive, "die Befürworter in der Defensive, ja sogar in einer Art Schockstarre". Leinen setzt nun auf Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef François Hollande, die Anfang Oktober gemeinsam das Europaparlament adressieren wollen: "Ich hoffe auf eine Ruck-Rede für Europa." Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Es gilt wohl, einen alten europäischen Fahrensmann zu treffen, um von einem anderen, viel positiveren Blick auf die Dinge zu hören. CDU-Mann Elmar Brok verspürt "keinen Frust, sondern Kampfeslust", weil für ihn die nächste große Krise die nächste Chance für Europa darstellt. Natürlich sei es mit 28 Staaten viel schwieriger als früher mit sechs oder neun, meint der Nordrhein-Westfale, doch erzwinge der Druck der Verhältnisse letztlich mehr Europa: "Unter Schmerzen bewegt es sich. Wir werden jetzt ein gemeinsames EU-Asylsystem bekommen, das die Mitgliedstaaten über Jahre abgelehnt haben." In der Finanz- und der Euro-Krise ist es aus seiner Sicht ganz ähnlich gewesen: "Wir haben jetzt Regeln, die unser Bankensystem und unsere Währung stabiler gemacht haben – das ist doch ein fantastischer Erfolg."

So viel Begeisterung freilich ist selten geworden in Brüssel. Häufiger sind in seiner Politikblase rund um den Schuman-Kreisverkehr solche Berufseuropäer anzutreffen, die zwar unglücklich über das große Ganze sind, in ihrem kleinen Arbeitsumfeld aber ganz zufrieden. Wie eben jener SPD-Abgeordnete Geier, der davon berichtet, dass sich "auf der Arbeit alle zusammenreißen, konzentriert und kompromissbereit zu Werke gehen, weil sie wissen, was die Stunde geschlagen hat".

Zusammenrücken also. Auch einer, der im Ministerratsgebäude mit den leidigen Finanz- und Wirtschaftsproblemen der Gemeinschaft kämpft, gesteht, dass er mit seiner Truppe "viel Spaß bei der Arbeit" hat: ein internationales Team, gut ausgebildet, hochmotiviert. "Da ist der Enthusiasmus ungebrochen, trotz der neuen Sklerose in Europa." Nach Brüssel sei er, der Deutsche, ohnehin nicht gekommen, um kurzfristig Erfolge zu feiern: "Europa ist einfach ein sehr langwieriger Prozess."

Können sich die Bürger aber auf das scheinbare Naturgesetz verlassen, dass Europa stets mit einem Schritt nach vorn auf eine Krise antwortet? Dass das nicht nur Durchhalteparolen sind und die Union doch zerbricht? Der FDP-Abgeordnete Michael Theurer will von solchen Horrorszenarien für die Zukunft nichts wissen und zitiert den liberalen Übervater Theodor Heuss: "Der einzige Mist, auf dem nichts mehr wächst, ist der Pessimist."

Der Text erschien in der "Agenda" vom 29. September 2015 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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