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Froh zu sein bedarf es wenig.

© Federico Gambarini/dpa

Keine Ausnahmen für Geimpfte: Der Deutsche Ethikrat hat sich angreifbar gemacht

Wollen wir eine gönnende Gesellschaft sein oder eine missgünstige? Diese Frage steht im Zentrum der erregt geführten Impf-Debatte. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Was spricht dagegen, dass sich vier Geimpfte aus vier Haushalten ohne Maske zu einem feucht-fröhlichen Skatabend verabreden? Nichts.

Sie können sich nicht selbst anstecken, weil sie geimpft sind, und sie können keinen anderen anstecken, weil auch alle anderen geimpft sind. Ein solcher Skatabend wäre also praktisch risikolos. Trotzdem soll er auf absehbare Zeit verboten bleiben – ebenso wie, unter denselben Bedingungen, der Kino-, Museums-, Restaurant- oder Konzertbesuch.

Ausnahmen für Corona-Geimpfte lehnt der Deutsche Ethikrat ab. Man muss dem wissenschaftlichen Gremium zugutehalten, dass sein Votum zu dieser Frage differenzierter ausfällt, als es auf wenigen Zeilen vermittelt werden kann. Dennoch hat er sich mit drei zentralen Aussagen angreifbar gemacht.

Erstens: Es ist unklar, ob Geimpfte noch ansteckend sind, das Virus also übertragen können. Das ist einerseits richtig, andererseits kann die Folge daraus allenfalls lauten, dass Geimpfte sich bei Begegnungen mit Nichtgeimpften an die Hygienemaßnahmen halten, an Abstand und Maske.

Es folgt nicht daraus, dass sie das untereinander tun müssen. Es gibt kein stichhaltiges epidemiologisches Argument, warum Gruppen von Geimpften ihre Freiheitsrechte einschränken müssen.

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Zweitens: Ausnahmen für Geimpfte zuzulassen, ist ungerecht jenen gegenüber, die noch nicht die Chance auf eine Impfung hatten. Geteiltes Leid sei halbes Leid, sagt der Volksmund. In der Tat ist das Gerechtigkeitsempfinden von Mitgliedern einer Solidargemeinschaft oft stark ausgeprägt. Ein Beispiel:

Ihr Chef stellt Sie vor folgende Alternative: Entweder Sie bekommen eine Gehaltserhöhung von 400 Euro monatlich, während Ihre Kollegen 600 Euro erhalten, oder alle Mitarbeiter, also auch Sie, bekommen 300 Euro. Sehr viele Menschen stimmen der zweiten Variante zu. Lieber hundert Euro weniger, aber dafür gerecht verteilt, als hundert Euro mehr, aber mit dem Gefühl, benachteiligt zu werden.

Es geht nicht um Privilegien für Geimpfte

Auf die Corona-Problematik trifft das Beispiel indes nur bedingt zu. Es geht nicht um Privilegien für Geimpfte oder Vorteile. Freiheitsrechte sind Grundrechte, sie einzuschränken, bedarf es besonderer Rechtfertigungen. Insgesamt haben sich die Deutschen in der Pandemie sehr solidarisch verhalten.

Außerdem ist ein Ende in Sicht. Bis zum Herbst soll jeder, der will, sich hat impfen lassen können. Auf das Gehaltsbeispiel übertragen heißt das: Sehr viele Menschen würden wohl der ersten Variante zustimmen, wenn die 400 Euro ein halbes Jahr später auf 600 erhöht würden. Wenn die Herstellung von Gerechtigkeit bloß eine Frage der Zeit ist, lassen sich temporäre Ungleichheiten durchaus ertragen.

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Zumal es niemandem schlechter geht, wenn andere Menschen nach und nach wieder in den Genuss ihrer Freiheiten kommen. Empfindet der Enkel Neid, wenn sich seine geimpfte Oma im Seniorenheim ohne Maske und Abstand mit anderen geimpften Alten treffen kann? Wollen wir eine gönnende Gesellschaft sein oder eine missgünstige? Wollen wir der Freude darüber Ausdruck verleihen, dass durch das Geschenk der Impfung langsam wieder Normalität einkehren kann? Oder kultivieren wir eine Unmoral, der zufolge es keinem besser gehen darf, so lange es einem selbst schlecht geht?

Drittens: Für Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen oder Einrichtungen für Behinderte und chronisch Kranke leben, gelten Ausnahmen. Weil die dort herrschenden Kontaktbeschränkungen leicht zu Depressionen, Demenzschüben oder anderen Isolations-Krankheiten führen, sollten sie für Geimpfte schnell gelockert werden.

Die Eingriffe in die Freiheitsrechte wiegen schwer

An dieser Stelle der Argumentation des Ethikrates wird plötzlich auf die zum Teil verheerenden Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen rekurriert, um im Falle einer Impfung für Lockerungen zu plädieren. Damit indes werden einer Debatte über die Frage „Wer leidet am meisten?“ Tür und Tor geöffnet. Zweifellos ist die Situation in Alten- und Pflegeheimen dramatisch. Aber als dramatisch empfinden auch viele Familien ihre Lage, Restaurantbetreiber oder Künstler.

Ein Skandal wiederum ist es, dass in diesem Zusammenhang kaum einer über die Gruppe der bereits Corona-Erkrankten spricht. Viele von ihnen leiden an Post-Covid-Symptomen, an Spätfolgen seelischer und körperlicher Art. Sie sehnen sich nach Kontakten oder einem Besuch im Fitness-Studio. Sollten sie nicht ebenso wie Geimpfte ihre Freiheitsrechte zurückerlangen dürfen?

Die Debatte muss geführt werden, denn die Eingriffe in die Freiheitsrechte wiegen schwer. Es ist besser, sukzessive in die Normalität zurückzukehren und Leiden zu minimieren, als ohne epidemiologisch gebotene Notwendigkeit auch jene Menschen in fortgesetzte Mithaftung zu nehmen, die das nicht verdient haben. Der Ethikrat hat allenfalls erste Antworten gegeben. Es dürfen nicht die letzten sein.

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