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Massiver Schutz garantierte am Mittwoch die Entscheidungsfähigkeit des Bundestags (im Hintergrund).

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Schon vor Corona gab es Angriffe: „Der Bundestag ist abgeriegelt von Chaoten“

Aggressive Demonstranten, die eine Entscheidung blockieren wollen – das erlebte das Parlament auch vor 27 Jahren. Das Thema war ein anderes, aber es gibt Parallelen .

Von Hans Monath

Ein Wunsch Wolfgang Schäubles ist nicht in Erfüllung gegangen. „Ich hoffe, dass es wirklich einmalig ist, dass wir ein solch großes Polizeiaufgebot brauchen“, sagte der CDU-Politiker und damalige Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, als er am 26. Mai 1993 die Debatte über die Änderung des Asylartikels 16 des Grundgesetzes eröffnete. 27 Jahre später musste Schäuble als Präsident des Bundestages wieder erleben, dass Demonstranten der Mehrheit des Parlaments das Recht auf eine umstrittene Entscheidung absprachen – diesmal die über das Infektionsschutzgesetz.

Im Frühling 1993 verteidigten 4000 Polizistinnen und Polizisten die Debatte und Abstimmung der Volksvertreter in der Noch-Bundeshauptstadt Bonn gegen den Versuch, die Grundgesetzänderung durch eine Blockade des Bundestags zu verhindern. Auf die Änderung hatten sich Union und SPD nach monatelangen Verhandlungen geeinigt. Danach sollten Flüchtlinge keinen Anspruch mehr auf Asyl erhalten, wenn sie über einen sicheren Drittstaat eingereist waren.

Farbbeutel gegen Abgeordnete, ein Faustschlag für einen Journalisten

Das empörte Parteien und Verbände aus dem linken Spektrum, Menschenrechtsorganisationen und kirchliche Aktivisten, die darin einen Anschlag auf die Menschenwürde und die Verfassung sahen. Mehr als 10.000 Demonstranten glaubten, sie hätten das Recht, die Entscheidung zu verhindern: Sie blockierten die Zugänge ins Regierungsviertel. Abgeordnete mussten per Schiff von der anderen Rheinseite oder mit dem Hubschrauber zum Parlament gebracht werden.

Glaubt man den Berichten von damals, blieb es nicht beim Hochhalten von Transparenten und Sitzblockaden, obwohl die Mehrheit der Demonstranten friedlich war die Stimmung der Protestierer gegenüber gewählten Abgeordneten und Medienvertretern damals ähnlich aggressiv wie nun vor dem Brandenburger Tor in unmittelbarer Nähe des Reichstags: Abgeordnete wie der CDU-Politiker Peter Bleser wurden mit Farbbeuteln beworfen, Journalisten bedrängt. Der SAT1-Korrespondent Udo Philipp bekam einen Faustschlag ins Gesicht.

Vor fast 30 Jahren wünschte er sich, dass der Bundestag nie wieder massiven Polizeischutz benötigen müsse: Wolfgang Schäuble (CDU), Bundestagspräsident, vor der Debatte vor der Verabschiedung der Änderung des Infektionsschutzgesetzes , dem Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. In dem Gesetz sollen weitreichende Maßnahmen beschlossen werden die bei einer Lage wie der Corona Pandemie Regierungshandeln ermöglichen . Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

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Steine, Flaschen und Leuchtgeschosse flogen. "Der Bundestag ist umstellt, abgeriegelt von der hoheitlichen Gewalt gegen Demo-Gewalt, aber auch umgekehrt, abgeriegelt von Chaoten, die viele Bedienstete mit Anpöbeleien und Gewalt am Gang zum Arbeitsplatz hindern", schrieb der Bonner Generalanzeiger am Tag darauf.

Damals stellten sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linken-Vorläuferpartei PDS auf die Seite der Demonstranten. Die Grünen-Abgeordnete Ingrid Köppen beantragte die Aufhebung des Verbots öffentlicher Versammlungen im Regierungsviertel während der Asylrechtsdebatte. "Unsere Bundestagsgruppe möchte, dass diese Demonstrationen nahe am Parlament stattfinden können“, erklärte sie. PDS-Politiker Gregor Gysi nannte die Bannmeile „eine unzulässige Einschränkung des Demonstrationsrechts“. Durch eine Einschränkung „provoziert man geradezu Gewalt“, argumentierte er. Der Grünen-Antrag wurde abgelehnt. Fast 30 Jahre später empörten sich nicht nur Union, SPD und FDP, sondern auch die Linke und die Grünen über die Anmaßung der Gegner der Corona-Politik vor dem Brandenburger Tor – und waren froh über den Einsatz der Polizei, die die aggressive Menge vom Bundestag fernhielt.

Warnung vor einem Anschlag auf die Verfassung

Wenige Tage vor der Entscheidung im Mai 1993 hatte Bundepräsident Richard von Weizsäcker die Bürgerinnen und Bürger gemahnt, die Entscheidung von Bundestag und Bundesrat zum Asylartikel des Grundgesetzes mit Aufmerksamkeit zu verfolgen und mit Besonnenheit zu begleiten. „Jeder Versuch, Bundestag oder Bundesrat von außen mit rechtswidrigen Mitteln unter Druck zu setzen oder gar Gewalt auszuüben, wäre nur ein Anschlag auf unsere Verfassung, er würde keinem Asylbewerber nützen und am Ende vor allem den Ausländern und denen schaden, die auf Achtung und Schutz ihrer Menschenwürde unter uns angewiesen sind“, mahnte das Staatsoberhaupt.

Wenn man die Begriffe „Asylbewerber“ durch „Menschen“ und „Ausländer“ durch „den von der Corona-Pandemie besonders bedrohten Gruppen“ ersetzt, klingt die Mahnung auch nach 27 Jahren noch überraschend aktuell.

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