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Die Synagoge von Halle (Saale) ist zu einem Tatort geworden.

© AFP

Der Anschlag von Halle: Die Rückkehr der alten Dämonen

Antisemitismus wächst überall in Europa, besonders in Frankreich. Aber wenn in Deutschland eine Synagoge angegriffen wird, ist das etwas ganz anderes. Eine Kolumne.

Als am Mittwochmittag ein Mann in Kampfmontur versucht, in die Synagoge von Halle einzudringen, befinde ich mich gerade über den Wolken. Neun Stunden himmlische Ruhe in einer Boeing 767, abgeschirmt von den Nachrichten dieser Welt. Zwischen Berlin und New York keine Internetverbindung, keinerlei Informationen von unserem Planeten, der dort weit unten ab und zu ein wenig seiner Oberfläche preisgibt. Doch es handelt sich nur um ein Intermezzo.

Kaum ist das Flugzeug gelandet, piepen die Smartphones Sturm: Achtung, Eilmeldung! Halle. Attentat auf die Synagoge. Maskierter Mann. Schüsse. Die Brutalität der Welt poppt auf den Handybildschirmen der Passagiere auf, die noch ganz benommen sind von ihrer langen Reise. „Oh mein Gott ! Haben Sie das gesehen?“, rufen sich die deutschen Passagiere zu. Sie stehen unter Schock. „Bewaffneter greift an Jom Kippur deutsche Synagoge an“, liest man auf den überdimensionalen Bildschirmen in der Ankunftshalle.

Vor einem Jahr Pittsburgh, jetzt das

Ausgerechnet an Jom Kippur, dem Versöhnungsfest, dem höchsten jüdischen Feiertag. Dem Tag, an dem die Familien zusammenkommen. Ausgerechnet fast genau ein Jahr nach dem Attentat von Pittsburgh. Als würde die Geschichte sich wiederholen. Am 27. Oktober des vergangenen Jahres war ich gerade in den USA gelandet.

Ich erinnere mich an das Entsetzen der Passagiere einer vergleichbaren Boeing beim Blick auf ihre Bildschirme: Ein 46-jähriger Mann war am Schabbat mit einem halbautomatischen Sturmgewehr in die Tree-of-Life-Synagoge eingedrungen und hatte elf Menschen erschossen. Er wollte „Juden umbringen“. Vor dem Massaker hatte er auf einem bei Rechtsextremen beliebten Kanal der sozialen Medien antisemitische Morddrohungen verbreitet. So auch der Mörder von Halle. „Es hätte noch sehr viel mehr Opfer geben können“, sagt Angela Merkel.

Ausgerechnet kurz nach dem 3. Oktober und wenige Wochen vor dem 9. November, diesen zwei so symbolischen Daten eines vereinigten, friedlichen, demokratischen und mit sich selbst versöhnten Deutschlands. Ausgerechnet in Halle, im Osten, wo die Stimmanteile für rechtsextreme Parteien überdurchschnittlich hoch sind.

Antisemitismus wächst besonders in Frankreich

Auch wenn die Statistiken zeigen, dass antisemitische Taten in ganz Europa, zuvorderst in Frankreich, zugenommen haben: Wenn in Deutschland eine Synagoge angegriffen wird, kehren die alten Dämonen zurück.

Es bleiben jede Menge Fragen. Wie kann der mutmaßliche Mörder, ein 27 Jahre alter weißer deutscher Mann, so offen und aggressiv antisemitisch sein? Sind wir zu naiv gewesen, zu glauben, Deutschland habe seine Lektion gelernt und in jahrzehntelanger „Vergangenheitsbewältigung“ die Gefahr einer Wiederholung gebannt? Hat man sich in der Sicherheit gewogen, diese Art von Gewalt fände immer nur bei den anderen statt? In Frankreich oder den USA, aber doch nicht in Deutschland? Doch hat die düstere Normalität längst das Land erreicht. Seit Monaten warnen Experten vor dem immer manifester werdenden Antisemitismus der gewaltbereiten rechtsextremen Szene.

Tut der Staat genug, um die immer der Gefahr von Angriffen ausgesetzte jüdische Bevölkerung zu schützen? Oder hat man glauben wollen, Antisemitismus existiere nur in islamistischen Kreisen? Aber vor allem stellt sich die schreckliche Frage: Ist gerade irgendwo auf der Welt ein einsamer und hasserfüllter Mann hinter seinem Bildschirm dabei, einen weiteren Terrorakt zu planen, für ihn nichts weiter als eine Art Computerspiel?
- Übersetzung aus dem Französischen: Odile Kennel.

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