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Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister, will das Gesetz ändern: Wer einer Organspende nicht ausdrücklich widerspricht, soll automatisch als Spender gelten.

© Foto: Tom Weller/dpa

Debatte um Spahns "Widerspruchslösung": Organspender sind keine Helden

Die Organspende ist eine grundsätzliche moralische Pflicht. Die Widerspruchslösung, die Jens Spahn vorschlägt, ist daher richtig, urteilt der Ethiker Klaus Steigleder. Ein Gastbeitrag.

Klaus Steigleder ist Professor für Angewandte Ethik am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum.

Dürfen Organe einem Verstorbenen bereits dann entnommen werden, wenn er zu Lebzeiten einer Organspende nicht widersprochen hat? Oder ist es erforderlich, dass der Verstorbene einer Organspende zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt hat? Um diese Fragen dreht sich die gegenwärtige Debatte, ob die bestehende „Zustimmungslösung“ bei der Organspende durch eine „Widerspruchslösung“ ersetzt werden darf.
Der Vorsitzende des deutschen Ethikrates Peter Dabrock hat sich in einem Beitrag im Tagesspiegel am 23. September vehement gegen eine entsprechende Gesetzesänderung ausgesprochen. Wie viele andere spricht er aber die für die Bewertung der Widerspruchslösung wichtigste ethische Frage nicht wirklich an und scheint sich auch im Irrtum darüber zu befinden, wie diese Frage beantwortet werden muss: Ist eine Organspende nach dem Tod ein Werk der Übergebühr – oder eine Pflicht?

Ein Werk der Übergebühr ist etwas, das über das hinausgeht, zu dem man verpflichtet ist. In der Diskussion wird meistens davon ausgegangen, dass die Organspende nach dem Tod ein solches ist. Das scheint Dabrock vorauszusetzen, der von „Solidarität“ und „Nächstenliebe“ spricht. Es ist besonders lobenswert, ja unter Umständen heldenhaft, es zu tun. Aber es besteht dazu keine Pflicht. Die Organspende nach dem Tod ist aber kein Werk der Übergebühr, sondern eine klar erkennbare moralische Hilfspflicht.

Wann sind wir moralisch verpflichtet, einem anderen zu helfen? Wir müssen helfen, wenn ein anderer sich in einer seine grundlegenden Rechte betreffenden Angelegenheit selbst nicht helfen kann und wir ohne vergleichbare Kosten zur Hilfeleistung in der Lage sind. Wenn wir einen anderen, der zu ertrinken droht, nur unter Einsatz unseres Lebens retten können, dann sind wir zur Hilfeleistung nicht verpflichtet. Dies ergibt sich aus der Gleichheit unserer Rechte. Der Ertrinkende hat kein größeres Recht auf Leben als wir. Wenn wir aber helfen können, ohne uns zu gefährden, dann sind wir dazu strikt verpflichtet. Dies ergibt sich daraus, dass unsere Rechte untereinander eine bestimmte Rangordnung bilden und situativ das bedeutendere Recht des einen (das Recht auf Leben) einen Vorrang haben kann vor dem weniger bedeutenden Recht eines anderen (das Recht, bestimmte Unannehmlichkeiten zu vermeiden).

Bei der Organspende nach dem Tod sind die Kriterien für eine moralische Hilfspflicht grundsätzlich klar erfüllt. Der mögliche Empfänger eines Organs kann sich selbst nicht helfen und ist auf ein Spenderorgan dringend angewiesen. Eine Organentnahme nach unserem Tod tangiert uns als Lebende nicht in einer vergleichbaren Weise. Wir können ohne vergleichbare Kosten helfen. Deshalb haben wir zu unseren Lebzeiten die grundsätzliche Pflicht, bereit zu sein, dass uns nach unserem Tod gegebenenfalls Organe entnommen werden.

Aber warum haben wir nur eine „grundsätzliche“ Pflicht und warum sind die Kriterien nur „grundsätzlich“ erfüllt? Vielleicht ist jemand nicht davon überzeugt, dass er nach dem Hirntod bereits „wirklich“ tot ist. Vielleicht ist jemand der Meinung, dass die engsten Angehörigen durch seine Organspende überfordert wären. Vielleicht meint jemand aus religiösen Gründen, dass ihm die Organe nicht entnommen werden dürfen. In all diesen Fällen besteht keine Pflicht zur Spende und liegen gute Gründe vor, einer Organentnahme nach dem Tod zu widersprechen. Doch man darf es nicht ohne gute Gründe tun.

Die wesentliche Rechtfertigung dafür, jemandem nach seinem Tod die Organe zu entnehmen, der dem nicht widersprochen hat, ist: Man darf davon ausgehen, dass jemand zu dem bereit ist, zu dem er grundsätzlich verpflichtet ist. Dies setzt aber voraus, dass die Betroffenen überhaupt über die Praxis der Organentnahme nach dem Hirntod Bescheid wissen und die Möglichkeit hatten, zu widersprechen. Die Widerspruchslösung darf nicht die Unwissenheit der Betroffenen ausnützen. Deshalb sollte ein Wechsel zur Widerspruchslösung erst nach einer Übergangszeit stattfinden, in der das nötige Informationsangebot etabliert wird. In meinen Seminaren und Vorträgen zu Hirntod und Organtransplantation mache ich regelmäßig die Erfahrung, dass in Sachen Transplantationsmedizin das Vorwissen der Teilnehmer gegen Null tendiert.

Es ist aber auch relevant, dass die gegenwärtige Praxis der auf die Angehörigen erweiterten Zustimmungslösung moralisch hochproblematisch ist. Sie bringt es mit sich, dass Ärzte die Angehörigen, etwa die Eltern des mit seinem Motorrad tödlich verunglückten 18-Jährigen, darauf ansprechen müssen, ob der gerade Verstorbene zur Organspende bereit war. Dies überfordert die Angehörigen und ist auch eine Zumutung für die Ärzte. Es ist eine zutiefst inhumane Praxis. Es ist keineswegs so, dass die bestehende Regelung die Rechte des Einzelnen achtet, wie Dabrock behauptet.

Es wäre hochwillkommen, wenn durch die Einführung der Widerspruchslösung die Zahl der verfügbaren Spenderorgane erhöht würde. Ob dies wirklich der Fall sein würde, können wir nicht wissen. Dafür spricht, dass es sich wohl so verhält, dass wesentlich mehr Menschen zur Organspende bereit sind, als die, die dann tatsächlich den Schritt gehen, einen Spenderausweis auszufüllen. Wenn die Widerspruchslösung richtig eingeführt wird, also alles vermieden wird, was den Verdacht weckt, es solle bloß die Unwissenheit von uns Bürgern ausgenutzt werden, dann ist nicht zu erwarten, dass die Einführung der Widerspruchslösung kontraproduktiv wirken wird. Dabrock spricht von einer bereits jetzt erreichten Organspendequote von 74 Prozent. Die Rechnung scheint vorauszusetzen, dass immer dann, wenn eine Organspende möglich ist, die Zustimmung zur Spende auch tatsächlich erfragt wird. Dies ist eine sehr gewagte Annahme.

Die Versorgung Hirntoter ist kostspielig. Das Ansprechen der Angehörigen auf die Spendebereitschaft gerade Verstorbener ist eine Zumutung. Es bestehen also vielfache Anreize, eine mögliche Organentnahme von vornherein zu vermeiden. Die Einführung der Widerspruchslösung könnte hier Hindernisse ausräumen. Eine bessere Vergütung von Kliniken für den zusätzlichen Versorgungsaufwand wäre ebenfalls wichtig. Moralische Argumente lassen sich rechtlich nicht bruchlos umsetzen. Dies entbindet aber nicht von dem Bemühen zu erkennen, was moralisch richtig oder falsch ist.

Klaus Steigleder

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