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In der neuen Welt: Vor dem LaGeSo in Berlin stehen Flüchtlinge im Regen und warten auf ihre Registrierung.

© dpa

Debatte über Flüchtlinge in Deutschland: Kaum einer gesteht, dass er selbst ratlos ist

Das erinnert mich an mich: Nach diesem Motto diskutiert Deutschland über die Flüchtlinge. Den Handelnden Widersprüchlichkeiten nachzuweisen, war nie leichter als heute - und nie billiger. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Von Stevie Wonder gibt es ein schönes Lied, es heißt „He’s Misstra Know-It-All“. Die Ballade beschreibt einen Mann, der immer einen Plan hat, stets alles weiß und nie zweifelt. „Misstra Know-It-All“ ist der Bescheidwisser, der Selbstbewusste, der Unfehlbare.

In der Flüchtlingsfrage wimmelt es von Bescheidwissern. Sie schwanken nicht, sie zögern nicht, stattdessen pumpen sie ihre Weisheiten im Stakkato-Rhythmus aus sich heraus. Sie verkünden laut, dass wir das schaffen – oder eben nicht. Herz-Fundis bringen sich gegen Verstand-Realos in Stellung. Die Gebote der Humanität sollen schwerer wiegen als der gesellschaftliche Zusammenhalt – oder andersherum, je nachdem.

Angela Merkels Selfies sind an der Misere schuld, posaunen die einen und planen Obergrenzen, Transitzonen und Asylrechtsveränderungen. Das sei großer Quatsch, tröten die anderen, die Flüchtlinge wären auch ohne Merkels Selfies hier.

Woher wissen die alle das bloß alles so genau? Durch den Erregungspegel der Debatte drängt sich der Verdacht auf, als ginge es vielen Streithähnen weniger um das Los der Flüchtlinge als um eine erneute Befriedigung der deutschen Selbstverständigungslust. Wer wir sind, was wir wollen. Die Rolle der Geschichte, Vertreibung und Flucht als eigene Prägungen, das bedingungslose Gut-sein-Wollen als Lektion der Nazi-Zeit. Auch „Misstra Know-It-All“ ist sehr selbstzentriert, nach dem Motto: Das erinnert mich an mich.

Jeder Mensch ist mehr als ein Mensch, hat Eigenarten, Charakter, eine Herkunft

Die Flüchtlinge liefern für diese Debatte nur die Stichworte. Gelegentlich werden Einzelschicksale porträtiert, aber im Wesentlichen bleiben die Zufluchtsuchenden gesichtslos. Wie viele sind überhaupt auf dem Weg? Wie viele von ihnen wollen ihre Heimat für immer verlassen und bei uns einwandern, und wie viele wollen wieder zurück, wenn der Krieg vorbei ist? Keiner weiß es. Sie sind Menschen, das soll reichen.

Es reicht aber nicht. Denn jeder Mensch ist mehr als ein Mensch, hat Eigenarten, Charakter, eine Herkunft. Worin unterscheiden sich Afghanen von Syrern, Muslime aus der Elfenbeinküste und Mali von Christen aus Eritrea und dem Irak? Wie stellen sie sich uns Deutsche vor, was wissen sie über uns? Solche Fragen werden selten gestellt und noch seltener beantwortet. Die Neugier auf die fremden Ankömmlinge hält sich sogar bei jenen in Grenzen, deren Arme grenzenlos offenstehen.

Und kaum einer gesteht, dass er selbst ratlos ist. Dabei führen die vier Grundprinzipien der Situation unausweichlich in Aporien. Erstens: Wir müssen Menschen in Not, die zu uns kommen, beschützen und ihnen helfen. Zweitens: Wir können nicht alle Menschen, die zu uns kommen wollen, aufnehmen. Drittens: Wir können in Europa nicht wieder Mauern und Stacheldrahtzäune an den Landesgrenzen bauen. Viertens: Wir haben weder die finanziellen noch die militärischen Ressourcen, um die vielfältigen Fluchtursachen – Armut, Krieg, Klima, Hunger, Tyrannei – wirksam zu bekämpfen.

Scheinauswege werden gesucht, gefunden und als Rettung gepriesen

Wer diese vier Sätze unterschreibt, gerät beim Nachdenken über Auswege aus der Krise automatisch in Sackgassen. Doch Ratlosigkeit ist schwer zu ertragen. Also werden Scheinauswege gesucht, gefunden und als Rettung gepriesen. Diese Fluchterfahrung in Scheinlösungen wiederum trägt zur Radikalisierung der Ansichten bei. Einen ratlosen „Misstra Know-It-All“ darf es nicht geben, kann es nicht geben.

Eine andere Möglichkeit, die verdammte Ratlosigkeit zumindest eine Zeit lang erträglich zu machen, ist das Benennen von Sündenböcken. Die Russen und Iraner helfen Assad! Die Amerikaner haben nichts gegen den Einsatz von Chemiewaffen getan! Die Türkei lässt alle Flüchtlinge durch! Dabei lehrt der Blick nach Libyen oder Ägypten, dass durch den Arabischen Frühling (mit Ausnahme Tunesiens) entweder ein Land ins Chaos abgeglitten ist oder ein Diktator durch einen anderen ersetzt wurde. Was würde in Syrien auf Assad folgen, wer sind dort die Guten und die Bösen? Glücklich – und unheimlich –, wer darauf eine sichere Antwort geben kann.

Politiker müssen Entscheidungen treffen. Dabei ist alles, was sie in der Flüchtlingskrise beschließen, richtig und falsch zugleich. Das auszuhalten, hat der Philosoph Odo Marquard einmal als „Inkompetenzkompensationskompetenz“ bezeichnet. Darüber kann man sich lustig machen. Doch lustig ist gar nichts daran.

Den Handelnden Inkonsistenzen nachzuweisen, war nie leichter als heute. Glücklich, wer derzeit nicht selbst handeln muss.

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