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Sabine Andresen stellt den Bericht der Kommission vor. Sie sagt: "Die Gesellschaft hat versagt."

© epd

Das Schweigen der Anderen: Bericht zu Kindesmissbrauch zeigt gesellschaftliches Versagen

Die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat ihren Bericht veröffentlicht. Er zeigt: Besonders häufig versagt das Umfeld von Betroffenen.

Die Erinnerungen an ihren Missbrauch sind für Franziska kein fortlaufendes Ereignis, sondern Bilder und Gefühle. Die Bauchschmerzen, bevor sie als Kind ins Bett ging. Aus Angst. Das Gefühl, die eigene Haut abkratzen zu wollen, nachdem Franziskas Vater ihr Bett wieder verlassen hatte. Aus Scham, aus Ekel.

Zwischen ihrem sechsten und 13. Lebensjahr wurde Franziska von ihrem Vater missbraucht. Ihre Erinnerung daran ist Teil des Bilanzberichts der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, der am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. „Wir sind im Bereich des Kinderschutzes in Deutschland in der Krise“, sagt Kommissionsmitglied Johannes-Wilhelm Rörig.

Ein Projekt ohne Blaupause

Seit drei Jahren untersucht die Kommission um die Vorsitzende Sabine Andresen Ausmaß, Art und Folgen der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland seit 1949. Ein Projekt ohne Vorbild, ohne Blaupause, das betont sie. Auf 289 Seiten werden die Verbrechen dokumentiert, wird das Versagen analysiert: „Aus den Berichten der Betroffenen geht vor allem hervor, wie häufig das nahe Umfeld und die gesamte Gesellschaft versagt haben und Kinder nicht geschützt wurden“, sagt Andresen. Und fordert: „Dafür muss Verantwortung übernommen werden.“

Insgesamt haben sich fast 1700 Betroffene bei der Kommission gemeldet, 857 Anhörungen wurden durchgeführt. 292 Menschen schrieben ihre Erlebnisse auf. In den gesammelten Berichten seien Muster erkennbar, sagt die Vorsitzende Andresen. In der Hälfte der dokumentierten Fälle finde der Missbrauch in der Familie statt. Die zentrale Frage für Andresen: „Warum schweigen andere im Umfeld so lange und so nachhaltig?“ Neben den Familien untersuchte die Kommission auch die speziellen Muster des Missbrauchs in Kirchen, in der DDR und in organisierten rituellen Strukturen.

Die Arbeit geht weiter

Andresen will verhindern, dass der Bericht nun in Aktenschränken verstaubt. Sie will, dass die Politik handelt. Sie fordert mehr Anerkennung für die Betroffenen, mehr Hilfe in Form von Therapie- und Beratungsangeboten und einen leichteren Zugang zu Entschädigungszahlungen. Auch die Justiz und die Polizei müssten lernen, besser mit Missbrauchsopfern umzugehen, sagt sie.

Für die Kommission ist die Arbeit noch nicht beendet. Das Bundeskabinett verlängerte die Laufzeit bereits um fünf Jahre, Familienministerin Franziska Giffey ist die Aufklärungsarbeit wichtig. Die Kommission soll bis zum zweiten Halbjahr dieses Jahres eine Art Anleitung formulieren, wie sexueller Missbrauch in Organisationen aufgearbeitet werden kann. Vor allem soll sie mehr Betroffene ermutigen, ihr Schweigen zu brechen.

Das Ziel: Betroffenen eine Stimme geben

Denn das Ziel der Kommission ist keine repräsentative Studie. Sie wolle Betroffenen eine Stimme geben, sagt Andresen. Deshalb besteht der Bericht aus zwei Bänden. In der zweiten Veröffentlichung dokumentieren 30 Geschichten die menschlichen Tragödien hinter den Zahlen und zeigen, wie das gesellschaftliche Versagen die Verbrechen in jedem einzelnen Fall ermöglichte – oder zumindest nicht beendete.

Auch Franziska erzählt dort ihre Geschichte. Sie verlor durch die Verbrechen ihre Kindheit und ihre Jugend, schreibt sie. Nun will sie ihr Schweigen brechen, deshalb hat sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben. In der Hoffnung, andere Kinder besser zu schützen.

Jonas Mielke

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