zum Hauptinhalt
Eine Frau hält vor der russischen Botschaft in Berlin ein Plakat gegen den Krieg in der Ukraine.

© REUTERS/Annegret Hilse

„Meine Familie und ich haben schon Angst“: Das Leben von Russen in Deutschland hat sich radikal geändert

Seit dem Start des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine registrieren die Behörden Angriffe auf russischsprachige Menschen.

Die Stimmung wirkt entspannt im „Mix Markt“ in Berlin-Marzahn. In dem russischen Supermarkt läuft englische Musik, Kunden stöbern zwischen Pelmeni, Semetschki und Krabowie Palozki. Über den Ukraine-Krieg will hier kaum jemand reden, den eigenen Namen nennen schon gar nicht.

„Meine Familie und ich haben schon Angst“, sagt eine ältere Frau aus Russland, die in Marzahn lebt. „Meine Tochter hat zu mir gesagt, ich soll in der Bahn lieber kein Russisch sprechen.“ Die Frau hat dunkles kurzes Haar, auch sie möchte namenlos bleiben.

[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird immer häufiger von Anfeindungen gegen in Deutschland lebende Russen berichtet. Am Wochenende forderte die russische Botschaft die Bundesregierung auf, ein politisches Signal gegen zunehmende Drohungen, Hassbotschaften und Übergriffe zu setzen.

Doch es gibt auch die andere Seite: Nicht wenige Russen in Deutschland sehen Präsident Wladimir Putin kritisch und sind unendlich erleichtert, hier in Sicherheit zu sein.

Ukrainer flüchten vor dem Krieg – Russen aus Putins Reich

„Es ist ja offensichtlich, dass Putin völlig verrückt geworden ist“, sagt der russische Journalist Mikhail Kaluzhskii, der seit 2015 mit seiner Familie in Berlin lebt.

Vor einigen Wochen hatte die dpa schon einmal mit ihm gesprochen über seine Gründe, Russland zu verlassen: der Nationalismus nach der russischen Annexion der Krim 2014, der Druck auf die Opposition, Anfeindungen gegen seine Arbeit für ein Theaterprogramm in Moskau. Jetzt sagt Mikhail im Interview, er wolle eine klare Botschaft an Deutschland senden: Es gibt Russen, die sich Putins Linie widersetzen.

[Lesen Sie auch: Das sagen Russen in Berlin: „Das ist ein einseitig vom Zaun gebrochener Krieg“ (T+)]

Seine Frau und er hätten in den vergangenen Tagen eine ukrainische Freundin und deren Sohn aufgenommen, die kurz vor Ausbruch des Kriegs aus Angst Kiew verließen. Die beiden seien inzwischen weitergereist, doch gebe es immer neue Anfragen von Freunden und Bekannten, sagt Mikhail.

Ukrainer, die vor dem Krieg auf der Flucht seien, aber auch Russen, die raus wollten aus Putins Reich. Da es inzwischen kaum noch Flüge gebe, reisten sie über Istanbul oder Dubai und mit dem Zug oder Bus über Finnland oder das Baltikum.

Er sei rund um die Uhr beschäftigt mit diesem Krieg, sagt der 54-Jährige. Spannungen mit Deutschen oder auch mit Ukrainern in Berlin habe er noch nicht erlebt. Auch sein zwölfjähriger Sohn habe nichts dergleichen aus der Schule berichtet. Aber Bekannte hätten erzählt, sie hielten sich jetzt zurück, in der Öffentlichkeit Russisch zu sprechen.

Zunahme an Straftaten gegen russischsprachige Menschen

Die Sorge scheint nicht ganz unbegründet. Nach einer Umfrage des ARD-Magazins Report Mainz registrierten Innenministerien und Polizeipräsidien bundesweit seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine Straftaten gegen russischsprachige Menschen, darunter vereinzelte Angriffe sowie Sachbeschädigungen gegen russische Geschäfte wie beschmierte Schaufenster.

Mehr zum Krieg in der Ukraine bei Tagesspiegel Plus:

Die russische Botschaft in Berlin berichtete am Wochenende sogar, binnen drei Tagen hätten sich Hunderte Landsleute in Deutschland über Drohungen und Hassbriefe beklagt. Autos mit russischen Kennzeichen seien beschädigt worden, es gebe Beschimpfungen, Mobbing, körperliche Übergriffe.

Botschafter Sergej Netschajew schickte laut Agentur Interfax deshalb eine Note an das Auswärtige Amt und forderte „starke Signale der deutschen Regierung“ an die Behörden in Ländern, Städten und Kommunen, „um diese Diskriminierung zu beenden“.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Deutsche Politiker nehmen die Berichte offenkundig ernst. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kritisierte Anfeindungen gegen russische oder belarussische Bürger schon vor Tagen auf Twitter. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Der entsetzliche Angriffskrieg gegen die Ukraine ist Putins Krieg. Es ist nicht der Krieg der Menschen mit russischen Wurzeln, die in Deutschland leben.“ Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) äußerte sich ähnlich.

Etwa 2,2 Millionen russischsprachige Zuwanderer leben in Deutschland

Erwartbar ist wohl, dass die Menschen dünnhäutiger werden, je länger der Krieg dauert und je mehr ukrainische Flüchtlinge auch nach Deutschland kommen. Vor dem Krieg lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamts gut 235.000 russische und 135.000 ukrainische Staatsbürger in der Bundesrepublik. Daneben gab es 2020 laut Statistik 298.000 deutsch-russische Doppelstaatler, 24.000 Menschen hatten zugleich die deutsche und die ukrainische Staatsbürgerschaft.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen]

Die Zahl der russischsprachigen Zuwanderer ist aber viel höher - Migrationsexperten schätzen sie auf etwa 2,2 Millionen. Viele Migranten mit russischen Wurzeln kamen als Spätaussiedler oder jüdische Kontingentflüchtlinge, andere zum Arbeiten. Einige haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Gruppe ist also alles andere als einheitlich.

Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf etwa leben Tausende Spätaussiedler, von denen bei weitem nicht alle Putin-kritisch eingestellt sind. Viele hielten bisher über russische Staatsmedien Verbindung zur früheren Heimat. Manche wollen sich einfach raushalten aus der Politik.

Obst und Gemüse wird von dem russischen Supermarkt "Mix Markt" vor dem Eingang angeboten.

© dpa/Paul Zinken

„Viele denken, die Menschen in Russland können einfach auf die Straße gehen und etwas dagegen machen, aber das funktioniert da nicht“, sagt eine zierliche blonde Frau Anfang zwanzig vor dem „Mix Markt“ - auch sie will ihren Namen nicht nennen.

Natürlich sei sie gegen Krieg, aber sie wolle sich nicht auf die russische oder ukrainische Seite stellen. „Wir kennen die ganze Geschichte nicht, wer hat recht, wer nicht oder was ist alles passiert.“ Bislang habe sie keine Anfeindungen erlebt, sagt sie. „Ich möchte mich jetzt aber auch nicht verstecken.“

Eine Frau Mitte 30 sagt es so: „Wir leben seit über 20 Jahren in Marzahn, aber es ist immer so, in Russland bist du der Deutsche und in Deutschland bist du der Russe.“ Sie mache sich Gedanken um die Menschen, die in Russland leben und jetzt Probleme bekommen, obwohl sie gegen den Krieg sind. „Wir wissen auch nicht, was wir denken oder glauben sollen, aber niemand will Krieg.“ (dpa)

Elisabeth Edich, Verena Schmitt-Roschmann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false