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Der gewählte künftige US-Präsident Joe Biden und seine Vize-Präsidentin Kamala Harris .

© AFP/Andrew Harnik

Das Auftreten von Joe Biden und Kamala Harris: Wenn Anstand zu Tränen rührt

Erleichterung nach den Trump-Jahren: Man möchten den frisch Gewählten vor Dankbarkeit um den Hals fallen. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Hatice Akyün

Spüren Sie auch diese Erleichterung? Diese Millionen Steine und Steinchen, die sich vier Jahre lang im Herzen angesammelt haben und am vergangenen Wochenende alle gleichzeitig auf den Boden geplumpst sind? Ich glaube, so erging es fast allen, die wert auf Anstand legen – und auf eine gute Kinderstube. Sie wissen längst, was und wen ich meine. Donald „ich habe gewonnen“ Trump.

Natürlich hat er die Wahl nicht gewonnen, sondern sein Herausforderer Joe Biden mit mindestens fünf Millionen Stimmen mehr. Und natürlich ist die Welt ohne Trump über Nacht nicht besser geworden, aber viel schöner.

Erinnern Sie sich noch an George W. Bush? Das ist der Mann, der wie sein Vater eine Obsession mit Saddam Hussein hatte und dafür fast die halbe arabische Welt in Schutt und Asche legte. Von den Nachwirkungen haben wir uns bis heute politisch nicht erholt. Dieser George W. Bush sagte einmal: „Ich mag den Rassismus und die Beschimpfungen nicht.“ Und: „Macht kann süchtig machen.“ Er meinte damit Donald Trump.

Ich musste Bushs Sätze drei Mal lesen, um sicher zu sein, dass er sie wirklich gesagt hat. Es war Balsam auf meiner geschundenen Seele. Ich entwickle Sympathien für PolitikerInnen, die nicht wie eine wild gewordene Hammelherde agieren. Angela Merkel, Justin Trudeau, Joe Biden, Kamala Harris oder Jacinda Ardern wirken mit ihrer Ruhe und Besonnenheit auf mich wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Zu George W. Bush gibt es auch einen Witz in Form eines Fotos, auf dem er schelmisch dem Betrachter mit einem Glas zuprostet und sagt: „Und ihr dachtet, ich sei ein Idiot.“

Wenn einem die Normalität wie das achte Weltwunder vorkommt

Apropos Kinderstube: Ich gebe aus eigener Erfahrung zu, dass es keine rein männliche Charaktereigenschaft ist, nicht verlieren zu können. Wie habe ich als Kind die Spielfiguren durch das Zimmer gepfeffert, wenn ich bei „Mensch ärgere dich nicht“ verloren hatte. Oder diese gepfefferte Ohrfeige, die ich dem Mann verpasst habe, als ich herausfand, dass er fremd gegangen war. Aber Politik ist eben kein Brettspiel, die USA keine betrogene Freundin und Donald Trump keiner, für den das Wohl seines Landes an erster Stelle steht.

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Was mir in der ersten Woche nach der US-Wahl aufgefallen ist: wie sehr ich einen langweiligen Politikstil vermisst habe. Bei Joe Bidens erster Rede nach der Wahl kamen mir die Tränen. Kein Hass, keine Beleidigungen, keine Drohungen, sondern Worte der Versöhnung, die er für alle fand, auch für die Trump-WählerInnen. Wie schlimm muss es also gewesen sein, dass einem die Normalität vorkommt, als sei sie das achte Weltwunder.

Ganz ehrlich, ich mag diesen verständnisvollen und Frieden stiftenden Typ PolitikerIn sehr. Jene, die eine beruhigende Wirkung auf Menschen haben und vereinen statt zu spalten. Allein dafür, dass Biden nicht wie Trump Gift und Galle versprüht hat, könnte ich ihm aus Dankbarkeit um den Hals zu fallen.

Aber ich bin realistisch genug zu wissen, dass auch Biden an Aufgaben scheitern wird, nicht alle seine Versprechen halten wird; aber lieber einen, der mich nicht dabei beschimpft, als einen, der lügt, dass sich der Balkenvorrat der ganzen Welt biegt.

Joe Biden wird am 20. November 78 Jahre alt, er ist kein begnadeter Politiker, aber er kann Erfahrung vorweisen. Und vor allem hat er mit Kamala Harris eine Politikerin, eine Frau an seiner Seite, die für Politik brennt, wie keine andere in den USA. Zusammen sind sie ein perfektes Team, um in diesen chaotischen Zeiten Orientierung zu geben, ein Team, dem man sich zuwendet, weil es wirkt wie die RetterInnen in der Not.

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