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Francis Collins, Direktor der Nationalen Gesundheitsinstitute der USA

© AFP/Andrew Harnik/Pool

Chef der Nationalen Gesundheitsinstitute der USA: „Wissenschaft ist wie Gottesdienst“

Francis Collins ist der wohl mächtigste Wissenschaftler der Welt. Sein Jahresbudget beträgt 42 Milliarden Dollar. Nun kämpft er gegen das Coronavirus.

Er spielt in einer Rockband („The Directors“), fährt eine Harley Davidson („das größte und lauteste, was man haben kann“), ist gläubiger Christ und der wohl mächtigste Wissenschaftler der Welt. Francis Collins leitet die Nationalen Gesundheitsinstitute der USA, hat 18.000 Mitarbeiter und ein Jahresbudget von 42 Milliarden Dollar. Keine andere Förderorganisation für Forschung hat mehr Geld. Jetzt steht der Arzt, Genetiker und Chemiker an vorderster Front bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus.

„Damit verbringe ich jede wache Stunde des Tages – und einige Stunden, in denen ich lieber schlafen sollte“, sagte der 70-jährige Collins vor wenigen Tagen in einem Interview mit „Physics Today“. Am selben Tag erhielt er den mit 1,3 Millionen Dollar dotierten Templeton-Preis. Der wird jährlich an Persönlichkeiten verliehen, die „die Macht der Wissenschaften nutzen, um die tiefsten Fragen des Universums zu beantworten sowie den Platz und den Zweck der Menschheit in diesem Universum“.

Entdeckungen sind „Momente der Andacht“

Collins schlägt Brücken, vereint Wissenschaft und Glaube. Er verteidigt die Evolutionslehre, forscht an embryonalen Stammzellen, kritisiert aber auch den Atheismus und sagt über wissenschaftliche Entdeckungen, sie seien für ihn „immer auch Momente der Andacht darüber, welch‘ tiefe Schönheit im Leben steckt“.

Damit eckt er an – bei Wissenschaftlern, die seinen Glauben für irrational halten, und bei Christen, die die Schöpfungsgeschichte buchstabengetreu auslegen. Für ihn sei die Wissenschaft „eine Form des Gottesdienstes“, sagt er.

Anfang der neunziger Jahre avancierte Collins zum Superstar der Genforschung. Ab 1993 leitete er – als Nachfolger von Doppelhelix-Entdecker James Watson – das Humangenomprojekt, in dem Hunderte von Wissenschaftlern an der vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Erbguts arbeiteten. Collins & Co lieferten sich ein Wettrennen mit Craig Venter, dem Präsidenten der Firma Celera.

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Sonntags beim Zoom-Gottesdienst

Vor zwanzig Jahren gelang beiden der Durchbruch. Am 20. Juni 2000 präsentierten Collins und Venter im Weißen Haus eine erste umfassende Version des menschlichen Erbguts. „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben schuf“, sagte der damalige Präsident Bill Clinton. Collins ergänzte: „Wir haben einen ersten Blick auf unsere Bauanleitung geworfen, von der vorher nur Gott wusste.“ Der Atheist Venter drückte seinen Stolz prosaischer aus. Die vollständige Entschlüsselung des Erbguts gelang im Jahre 2003.

Seine aktuellen Forschungen an einem Anti-Covid-19-Impfstoff unterbricht Collins nur sonntags, um an einem Zoom-Gottesdienst seiner Gemeinde teilzunehmen. Ansonsten ist er rund um die Uhr im Einsatz. „Ich spüre die Dringlichkeit, zu Ergebnissen zu gelangen, stärker als je zuvor in meinem Leben als Wissenschaftler“, sagt er. „Ich bin zu hundert Prozent auf diese Arbeit fokussiert.“

Drei Milliarden Dollar extra

Vor einem Monat rief Collins eine Gruppe ins Leben, die sich abgekürzt ACTIV nennt, das steht für „Accelerating Covid-19 Therapeutic Interventions and Vaccines“. In ihr haben sich 18 Unternehmen mit den amerikanischen Gesundheitsdiensten, dem Verteidigungsministerium und dem Veteranenministerium zusammengeschlossen, um einen Impfstoff zu entwickeln. Ein Teil des Jahresbudgets der Gesundheitsdienste konnte dafür abgezweigt werden, der Kongress habe drei Milliarden Dollar extra zur Verfügung gestellt.

Die Arbeit sei weiter vorangeschritten, als noch vor zehn Tagen prognostiziert worden war, sagt Collins. Er hoffe, gegen Ende des Jahres Millionen von Impfdosen für die Hochrisikogruppen entwickelt zu haben. Ohne die Genforschung wäre das nicht möglich. Heutzutage lässt sich das Erbgut eines Menschen in wenigen Stunden, das Genom eines Virus in wenigen Minuten entziffern.

Collins stammt aus einer säkularen Aussteiger-Familie aus Virginia. Anfangs wurde er zu Hause unterrichtet, begeisterte sich für Zahlen und Ordnungssysteme. Nach der Schule studierte er erst Chemie, dann Medizin, Schwerpunkt Genetik. Forschungsgeschichte schrieb er mit der Identifizierung eines Gens, das die Lungenkrankheit Mukoviszidose verursacht. Außerdem forschte er erfolgreich zu Chorea Huntington und Neurofibromatose.

Im Juli 2009 wurde er von Präsident Barack Obama zum Direktor der „National Institutes of Health“ berufen. Seit elf Jahren leitet er die biomedizinische Forschungs-Förderorganisation.

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Den Tod vor Augen

Zum Glauben fand Collins als junger Medizinstudent. Sozialisiert worden war er agnostisch, ja atheistisch, doch in einem Krankenhaus traf er auf unheilbare Patienten, die, den Tod vor Augen, fromm blieben und mit Gott nicht haderten.

Das beeindruckte ihn. „Außerdem stellte ich fest, so gut wie nichts über einen Glauben zu wissen, den ich zurückgewiesen hatte.“ Folglich begann er, in den Werken des Oxford-Gelehrten C. S. Lewis zu lesen, der die These vertritt, dass Glaube und Vernunft kompatibel seien.

Je mehr er las und nachdachte, desto faszinierter war Collins von der christlichen Lehre. Bekehrt wurde er schließlich beim Wandern in den Cascade Montains im Nordwesten Amerikas. Die Schönheit der Schöpfung überwältigte ihn. Damals war er 27 Jahre alt. „Die Wissenschaft beantwortet unsere Wie-Fragen, das Christentum die Warum-Fragen“, sagt er.

Woher kommt die Evolution?

In diesem Sinne erkläre die Evolution zwar die Entstehung der Arten, aber woher kommt die Evolution selbst? Sie sei, sagt Collins, ebenso wie der Urknall und die instinktive menschliche Moral eine Idee Gottes. „Ich glaube, dass Gott uns die Möglichkeit gegeben hat, durch den Gebrauch der Wissenschaft die Welt zu verstehen“, sagte er im Jahr 2004 in einem Interview mit der TV-Senderkette PBS.

Collins ist Mitglied der „National Academy of Sciences“ und der „American Academy of Arts and Sciences“. Nur etwa sieben Prozent der amerikanischen Wissenschaftler glauben an Gott. Doch Kritik an Collins wird selten laut. Dessen Arbeiten werden allseits respektiert. Im Jahr 2007 erhielt er die „Presidential Medal of Freedom“, die höchste zivile Auszeichnung der USA, und 2010 den „Albany Medical Center Prize“, den höchstdotierten Medizinpreis der USA.

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