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Bundeswehr in Afghanistan: "Lass dich nicht erschießen"

Geh da nicht hin, bettelte seine Mutter. Aber Martin Augustyniak blieb stur. Und ging. Nach Aghanistan. In den Krieg. Am 2. April 2010 bekam sie die Todesnachricht.

Diese Zeitungsseite ist ein Stück Martin. „Martin, der ewig jung bleibt“, sagt seine Mutter. Mit einem Lachen, das aufflackert und gleich wieder erstickt. Es war einmal. Ursula Wolf war einmal eine lustige Frau.

Martin bleibt jung, dabei hat sie schon mit seinem Älterwerden gehadert. Das ist nicht lange her. Er hatte den Schädel kahl rasiert, weil sich die Haare aus der Stirn verzogen hatten wie das Meer bei Ebbe. Er mochte keine Geheimratsecken. Dann ließ er sich auch noch einen rotblonden Bart stehen. Ihr gefiel das nicht. Er war an die zwei Meter groß, ein kräftiger Mann. Sie sah: Sie hatte keinen kleinen Jungen mehr.

Jetzt hat sie nicht mal mehr einen Sohn. Nur noch Dinge, die an ihn erinnern. Papier. So wie diese Zeitungsseite, die sie nach Bielefeld geschickt bekommen möchte, in vierfacher Ausführung. Eine will sie selbst nehmen, die anderen weiterreichen. Sie trauert nicht allein. Das macht es aber nicht leichter.

Sie wird das Stück Martin in die Pappschachtel legen. Dort liegen auch zwei Fotoalben. Das mit Martins Kinderbildern aus den 80er, 90er Jahren hat sie erst in den letzten Monaten zusammengestellt. Das andere hat man ihr geschenkt. Im Oktober bei einem Essen in der Kaserne im niedersächsischen Seedorf. Die Bilder darin sind alle von 2010. Martin trägt den Tarnanzug der Bundeswehr. Seine Gestalt hebt sich kaum vom braunen, trockenen Land der Provinz Kundus in Nordosten Afghanistans ab. Er steht breitbeinig, lacht, macht das Victory-Zeichen. Die Soldaten, die ihn so fotografierten, haben Afghanistan nach Ostern früher als vorgesehen verlassen. Sie hatten drei Särge dabei, denn drei Kameraden hatten den Karfreitag nicht überlebt. Der Anlass des Essens in der Kaserne, bei dem sie Ursula Wolf das Fotoalbum schenkten: Martin war jetzt ein halbes Jahr tot.

Martin besaß das Talent, seinen Willen durchzusetzen. Bei anderen, aber auch bei sich selbst. Obwohl seine Mutter das Fruchtwasser, das sie plötzlich verlor, noch nicht für die Geburt hielt und sich benahm, als wäre eine Erkältung im Anmarsch, drängte er aus ihrem Körper. In der 33. Schwangerschaftswoche. Er wurde ein Blondschopf, ein quirliger Junge, der in Latzhose herumtobte. Ein muskulöser Jüngling im ärmellosen T-Shirt, der seine Haare färbte, sich eine Dauerwelle zulegte, ein Spinner, der sich verkleidete, ein leidenschaftlicher Tänzer. Er trug den polnischen Mädchennamen seiner Mutter. Augustyniak. Er beklagte sich darüber, dass sie ihn nicht ihre Muttersprache lehrte.

Die Grundschullehrer hielten wenig von Martin. Verordneten Hauptschule. Er ließ sich nicht beirren, schloss die zehnte Klasse als Jahrgangsbester ab, wählte ausgerechnet das Ratsgymnasium, an dem die Kinder wohlhabender Bielefelder lernten. Später wechselte er an eine andere Schule, machte dort Abitur.

Weil er Fußballspielen, als Aerobic-Trainer arbeiten, tanzen wollte, verweigerte er den Wehrdienst. Wurde Zivi in einer Behinderteneinrichtung. Studierte Pädagogik in Hannover, schloss das Vordiplom mit 1,5 ab. In der Frau, der er eines Tages an der Universität begegnete, erkannte er die Liebe seines Lebens. Sie kam aus Georgien. Um sie zu heiraten, legte er kurzerhand den katholischen Glauben ab und trat der georgisch-orthodoxen Kirche bei. Und er zeugte einen Sohn. Weil die kleine Studentenfamilie Geld brauchte, ließ er das Studieren sein. Arbeitete beim Sicherheitsdienst auf der Messe. Messe war nicht immer, aber er brauchte immer Geld. Kein Problem. Bewarb er sich eben doch bei der Bundeswehr. Die lehnte ihn ab.

In der Pappschachtel, in der seine Mutter verwahrt, was an ihn erinnert, liegt auch ein Brief. Er ist nicht an sie adressiert. Die Anrede lautet: „Sehr geehrter Herr Dienststellenleiter!“ So wie es seine Gewohnheit war, hat er auch mit diesem Brief sein Schicksal herausgefordert.

Ihm leuchte nicht ein, warum man ihn nicht haben wolle, schrieb Martin Augustyniak am 10. September 2007 an den zuständigen Dienststellenleiter bei der Bundeswehr, er fühle sich unverstanden, ungerecht behandelt. Er fuhr Geschütze auf, ballerte mit Fakten, Emotionen. „Bei allem Respekt muss ich fragen, ob man sich überhaupt die Mühe gemacht hat, meine Zeugnisse und den Lebenslauf zu begutachten?“ Er warf der Bundeswehr vor, ihn beleidigt zu haben. „Erklären Sie mir bitte, warum ich mit solchen Erfolgen und meinem Ehrgeiz die Ansprüche an einen Zeitsoldaten nicht erfülle!“ Er war sicher, dass der Brief einschlagen und er seinen Willen bekommen würde. Einzig der letzte Satz zeigte, dass seineWillensstärke nicht unerschütterlich war. Martin bat: „Geben Sie mir eine Chance!“

Seine Mutter war 1976, fünf Jahre vor seiner Geburt, nach Deutschland gekommen. Sie hatte gerade Abitur gemacht, war 20 Jahre alt, beweglich und unerschrocken, fand Arbeit. Obwohl sie wusste, dass der Vater des Kindes in ihrem Bauch weder da sein noch finanziell helfen würde, wollte sie es haben. Als Martin da war, wurde sie gekündigt. Nach einem Jahr kam ihre Mutter nach Deutschland. Die Oma kümmerte sich um den Jungen, bis er eingeschult wurde, und Ursula Wolf verdiente als Haushälterin das Geld.

Sofort nach Martins Frühgeburt hatte man ihn in Silberfolie gewickelt und war mit ihm weggelaufen. Seine Mutter wurde vom Kreißsaal auf die Station gebracht, der Säugling kam in ein anderes Krankenhaus. Sie lag mit zwei Frauen und deren Babys zusammen, mutterseelenallein. Irgendwann überbrachte jemand die Nachricht, dass es mit ihrem Jungen nicht gut aussehe und er keine großen Überlebenschancen habe. Irgendwann kam jemand mit einem Bild: ein winziger Mensch im Brutkasten, Schläuche in der Nase. Irgendwann wollte jemand ihre Milch, um sie Martin zu bringen. Sie pumpte, liebkoste das Foto, fürchtete sich. Sie sagt: „Von Anfang an hatte ich immer Angst um ihn.“

Angst, jedes Mal, wenn er alleine loszog. Angst, selbst nachdem sie nicht mehr allein mit ihm lebte, sondern mit Lothar Wolf verheiratet war. Seit 18 Jahren arbeitet sie in der Kantine der Hauptschule, eben jener, an der Martin lernte. Er rief sie dort „Mama“. Alle riefen sie so. Ihre Art, anwesend zu sein, war für ein Kind nicht die schlechteste Lebensbedingung. Dennoch hatte Martin allen Grund, vor ihr zu fliehen. Sie freute sich nicht, als er die Führerscheinprüfung bestand, sondern bangte. Sie lag wach, bis er nachts von der Disko zurück war. „Jetzt ist die Angst weg“, sagt sie. „Jetzt kann ja nichts mehr passieren.“

Vier Monate nachdem er die Beschwerde an die Bundeswehr gesandt hatte, wurde Martin Soldat. Das war am 1. Januar 2008. Er erzählte vom Lkw-Führerschein. Dass er einen Panzer steuern kann. Dass er bei den Fallschirmjägern ist. Und dann erzählte er von Afghanistan. Sie saß da, hilflos wie einst im Kreißsaal, als er in der Silberfolie steckte. „Was willst du denn dort? Das ist doch nicht dein Krieg. Da kann man sein Leben lassen!“ Auch die Schwiegertochter war nicht begeistert von Martins Idee. Aber er wollte. Er antwortete: „Statistisch gesehen, kann mir nichts passieren.“

Am 15. Februar offenbarte sie ihm ihre Angst zum letzten Mal. Er holte seinen Sohn Remo in Bielefeld ab. Während der Vierjährige sich anzog, standen sie im Flur. Allen Ernstes erbat sie Unmögliches: „Lass dich nicht erschießen!“ Allen Ernstes versprach er, was man auch beim besten Willen nicht versprechen kann: „Nein, mach ich nicht.“

Am 26. Februar flog er ab. Marschbefehl nennt sich das bei der Armee. Ursula Wolf arbeitete in der Kantine, konnte nicht zum Flughafen. Einmal die Woche rief er sie aus Afghanistan an. Erzählte vom Frühling, dass er sich mit dem afghanischen Dolmetscher angefreundet hatte, dass die Kinder in Kundus nicht um Kaugummis und Schokolade, sondern um leere Patronenhülsen betteln. Am Montag vor Ostern telefonierten sie zum letzten Mal. Er bat um ein Paket. „Du weißt ja, was ich gern esse, Ma.“ Sie vertröstete ihn auf die Monatsmitte, weil da erst Geld aufs Konto kam.

Am Morgen des Karfreitag, am 2.April 2010, stellte Lothar Wolf ein großes Paket bereit. Remo war bei ihnen, gemeinsam packten sie Chili und andere Gewürze, scharfe Soßen hinein. Mittags war Martins Oma am Telefon: „Irgendwas ist da in Afghanistan.“ Ursula wehrte sich: „Mutti, du kannst nicht jedes Mal die Pferde scheu machen, wenn’s da knallt!“ Dann rief sie doch bei der Schwiegertochter an.

Aber am Telefon in Hannover meldete sich ein Mann. Ein Oberst der Bundeswehr. Er und ein Militärpfarrer waren zu Martins Frau in die Wohnung gekommen. Ursula Wolf erschrak, als sie die Stimme des Obersts hörte. Und sagte, als ob dies ein Film wäre und sie ihren Text gelernt hätte: „Ich bin die Mutter.“ Was sagte er? Gefallen? Gestorben? Umgekommen? Sie weiß nur noch dies: „Plötzlich war die Angst weg.“ Ihr Mann nahm das Paket, ging fort, kam mit einer Schachtel Zigaretten zurück und fing nach langer Zeit wieder an zu rauchen.

Genaueres über Martins Tod konnten der Oberst und der Militärpfarrer auch nicht sagen. Was geschehen war, erfuhr sie Tage später aus dem „Stern“. Sie raste durch den Text, durch ein stundenlanges Gefecht, vorbei an Marder-Schützenpanzern, Fuchs-Schützenpanzern, Dingos und Medevac-Hubschraubern. Mit Maschinengewehren und Panzerfäusten wurde seine Truppe von Taliban angegriffen. Sie erstarrte, als sie las, dass um 13. 20 Uhr ein Schuss Martins Helm getroffen hatte. Aber die Munition hatte am Helm die Aufschlagkraft verloren und ihn nicht einmal verletzt. Sie las, was er zum Sanitäter sagte: „Heute ist mein Glückstag.“ Sie las, dass gut anderthalb Stunden später ein Sprengsatz zündete, der ihn das Leben kostete. Sie nannten ihn schon einen Gefallenen, als er im Lazarett eintraf. Er war 28 Jahre alt. Ursula versuchte zu verstehen. Aber sie verstand nicht einmal, warum Fallschirmjäger Minen räumen.

Eine Zeitschrift war dem sterbenden Martin näher gekommen als die Mutter. Sie bat den Oberst, dorthin zu dürfen, wo er umgekommen war. Der Oberst sagte, er würde „im Moment davon abraten“. Er sprach es wie einen Befehl. Eine halbe Stunde vor der Trauerfeier in der Nähe von Bremen traf Ursula Wolf die Kanzlerin und den Verteidigungsminister zum Kaffee. Fotoapparate und Fernsehkameras waren da. Martin lag unter dem Bundesadler. Sie erinnert sich, dass Karl Theodor zu Guttenberg von seinen Töchtern sprach. Dass Angela Merkel sehr klein war und viel Make-up trug. Martins Grab in Bielefeld besucht die Mutter fast jeden Tag. Bei seiner georgisch-orthodoxen Beerdigung hat sie kein Wort verstanden. „Das war noch einmal ein Massaker“, sagt sie. „Ein Massaker an meiner Seele.“

Seit Martins Sarg in Deutschland angekommen war, forderte sie, hineinsehen zu dürfen. Man riet ihr „dringend“ ab. Sie ließ nicht locker. „Ich glaube nicht, dass er da drin ist!“, rief sie. „Ich habe ihn geboren!“ Bevor er in die Erde gelassen wurde, stand der Sarg in der Kapelle dann offen. Martin trug Uniform, war bis zur Hüfte mit einem Tuch bedeckt. Sie sollte es nicht anrühren. Sie sah genau, dass in einem Ärmel kein Arm mehr war. Sie begriff, warum ihr Sohn weiße Handschuhe trug. Sie berührte mit der Hand das Tuch auf der Hüfte, tastete nach seinen Beinen. Da war nichts. Sie schaute ihm ins Gesicht. Da war modelliert und geklebt worden, da war viel Schminke. Die Nase, sagt sie, habe ein bisschen ausgesehen wie die von Michael Jackson. Sie sagte: „Martin, wach auf!“

Vergangenen Sonntag, am Volkstrauertag, ist Ursula Wolf beim Verteidigungsminister in Berlin gewesen. Ihr Enkel Remo war auch dabei. Bei der Kranzniederlegung am Ehrenmal der Bundeswehr fragte er: „Warum weinst du, Oma?“ Sie antwortete: „Weil der Wind in meine Augen weht.“ Als Soldaten aufmarschierten, fragte Remo: „Ist das da Papa?“

Ihr gelingt es nicht mehr, richtig zu lachen. Sie kann keine Musik mehr hören, wenn sie die Fotos in der Pappschachtel sortiert. Wenn sie fernsieht oder ein Buch liest, ist sie nie dort, wo die Handlung spielt. Sie war kaum krank in ihrem Leben, nun wird sie seit Wochen eine Erkältung nicht los. Sie sollte einen Psychologen aufsuchen. „Ich kann mich noch nicht öffnen“, sagt sie. Und sie kann ihren Sohn nicht loslassen. „Ich heiße Remo, Oma, nicht Martin“, korrigiert der Enkel. Immer wieder.

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