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Wieder zusperren? So grauslich ein neuer Lockdown wäre: Es muss etwas passieren, das die Fallzahlen schnell und deutlich senkt.

© dpa

Bitte nicht ablenken: Hinter der Impfpflicht-Debatte lauert das Thema Lockdown

Die Impfpflicht-Debatte ist notwendig. Ein anderes, sehr drängendes Thema darf dabei aber nicht vergessen werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Karin Christmann

Der Comedian Wigald Boning twitterte am Montag, er habe seine Meinung noch nie „so schnell geändert wie in Sachen Impfpflicht: Jahrzehntelang dagegen, neuerdings dafür.“ Die Realität sei „manchmal auch so ‘ne Art Booster“.

Mit diesem Empfinden steht er wohl nicht alleine da. Es gibt sehr mächtige Argumente gegen eine allgemeine Impfpflicht. Die Realität aber ist übermächtig geworden.

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Führt noch ein Weg daran vorbei, die Abwägung zwischen individueller und kollektiver Freiheit dem und der einzelnen aus der Hand zu nehmen? Kann eine individuelle Freiheit schützenswert sein, die die kollektive Freiheit in lange unbekanntem Maße beeinträchtigt? Sollte eine Gesellschaft sich in Geiselhaft nehmen lassen von einer Minderheit, die sogar gegen das eigene Wohl handelt, auch wenn sie das so natürlich nicht sieht?

Auch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung wiegt schwer

So formuliert scheinen diese Fragen einfach zu beantworten. Dennoch bleibt die Entscheidung über die Impfpflicht sehr schwierig, denn auch das Grundrecht, über den eigenen Körper selbst zu bestimmen, wiegt schwer.

Doch es geht nicht nur um die kurz- und mittelfristige Perspektive einer coronaerschöpften Gesellschaft, um die Frage, ob in den nächsten Wochen irgendwie ein halbwegs geregelter Betrieb in den Krankenhäusern aufrecht erhalten werden kann. Sondern es geht auch um den langfristigen Blick in die Zukunft.

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Während Politiker:innen noch wahrheitswidrig behaupten, die Wissenschaft habe nicht deutlich genug vor der vierten Welle gewarnt, weist eben jene Wissenschaft bereits darauf hin, dass Deutschland im Herbst 2022 in einer sehr ähnlichen Lage sein könnte wie jetzt, wenn es nicht gelingt, die Impfquote massiv und nachhaltig zu steigern.

Die Botschaft etwa des Virologen Christian Drosten ist ganz klar: Es gibt genau einen Weg raus aus der vermaledeiten Lage, und dieser Weg ist gepflastert mit Impfspritzen. Wegtesten lasse sich ein derart ansteckendes Virus wie die Delta-Variante von Sars-CoV-2 nicht.

Verbeißen in ethische, juristische und praktische Aspekte

Es ist also unabdingbar, das Thema Impfpflicht jetzt zu debattieren. Dabei können die Vertreter:innen beider Lager sich mit Inbrunst in ethische, juristische und praktische Aspekte verbeißen. Das alles aber darf nicht ablenken von einer Frage, die mindestens ebenso sehr drängt und die politisch ähnlich unbequem zu bearbeiten ist: Was soll und kann getan werden, damit die Infektionszahlen sinken? Das muss geschehen, und zwar jetzt und massiv.

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Dafür ist die Impfpflicht nicht das richtige Mittel, denn es würde viel zu lange dauern, bis sie wirken würde. Wieder verhallen die Warnrufe aus der Wissenschaft, das von der Ampel durchgesetzte Infektionsschutzgesetz werde nicht reichen. Ob sich in ein paar Wochen ein Ministerpräsident findet, der sich öffentlich beschwert, in seinem Bundesland sei leider, leider die Krankenversorgung zusammengebrochen, aber ihn habe nun einmal niemand rechtzeitig gewarnt?

Hinter der Impfpflicht-Debatte lauert eine Lockdown-Debatte. Denn ein solcher könnte bald die einzige verbliebene Option sein, um einen Zusammenbruch großer Teile des regulären Klinikbetriebs zu verhindern – vermutlich ist er es längst.

Oder möchte die Gesellschaft einen Kollaps der Krankenversorgung hinnehmen? Hoffentlich nicht.

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