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Der massive Betrug macht alle Versuche zunichte, das Vertrauen in die Pflege zu stärken.

© dpa

Organisierte Kriminalität bei der Pflege: Betrug mit System

Der Pflege-TÜV war ein Reinfall und macht es Kriminellen leicht, Geld zu scheffeln. Nötig ist ein transparentes System. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Rainer Woratschka

Der Zeitpunkt könnte ungünstiger kaum sein. Da haben die Regierenden nach langem Vorlauf endlich eine Pflegereform auf den Weg gebracht, die den Namen verdient. Haben mickrige Leistungen ausgeweitet, die Zahl der Empfänger um eine halbe Million erhöht, das Satt-Sauber-System mit der Neudefinition von Pflegebedürftigkeit von Grund auf erneuert – und das Kunststück vollbracht, den Beitragszahlern für all dies Milliarden abzuknöpfen, ohne dass es ihnen groß übel genommen wird.

In diese Aufbruchsstimmung prasselt nun ein Betrugsskandal, der die schöne neue Pflegewelt gleich wieder diskreditiert.

Systematisch und in großem Stil wurden die Sozialkassen in Deutschland durch russisch geführte Pflegedienste abgezockt. Alte Menschen halfen mit und simulierten Pflegebedürftigkeit. Angehörige mit Schwerstkranken wurden an Gewinnen durch Falschabrechnung beteiligt. Der Schaden: mindestens eine Milliarde im Jahr.

Die organisierte Kriminalität hat offenbar ein neues Geschäftsfeld entdeckt

In Berlin demonstriert die Politik, als ob sie darauf gewartet hätte, gleich am nächsten Tag per Großrazzia Handlungsfähigkeit. Anderswo stoßen Ermittler ebenfalls auf manipulierte Rechnungen, fingierte Rezepte, Bestechung. Und kratzen doch nur an der Spitze eines Eisbergs.

Die organisierte Kriminalität hat, so scheint es, ein neues Geschäftsfeld entdeckt. Das ist schlimm, denn es trifft die Verwundbarsten dieser Gesellschaft. Und es macht alle Versuche zunichte, das Vertrauen in die Pflege zu stärken und sie für Arbeitskräfte attraktiver zu machen. Zu der Aussicht, von dem miesen Salär nicht leben zu können und körperlich wie psychisch auszubrennen, kommt nun noch die Perspektive, bei Firmen zu landen, die sich an der Vernachlässigung hilfloser Menschen bereichern.

Mit Geld geflutet, aber ohne Transparenz

Verwunderlich ist diese Entdeckung nicht. Wo sonst gibt es ein derart mit Geld geflutetes System mit so wenig Transparenz und Kontrolle? Über jedes Hotel könne man sich im Internet besser informieren als über die Qualität von Pflegediensten und -heimen für die nächsten Angehörigen, bringt es der Vorstandschef einer großen Krankenkasse auf den Punkt.

Der so genannte Pflege-TÜV war der Reinfall des Jahrzehnts. Mit geschönten Gesamtnoten werden darin Qualitätsunterschiede verkleistert und Missstände verdeckt. Die Gefahr, wundzuliegen, falsche Arznei oder nicht genug zu trinken zu bekommen, rangiert gleichbedeutend neben der Gestaltung des Tischschmucks. Und geprüft wird nicht etwa die Pflege, sondern deren Dokumentation.

Kurzfristig könnten einfache Maßnahmen helfen

Obwohl jeder weiß und öffentlich darüber klagt, dass dieses Notensystem den schwarzen Schafen in die Hände spielt, wird es nicht ausgemustert. Bis 2018, so der Politikerkompromiss, will man es „grundlegend überarbeitet“ haben. Und bis 2020 soll es „Verfahren zur Personalbedarfsbemessung“ geben. Schön, dass die Politik so viel Zeit hat. Bis dahin fließen die Beitragsgelder auch für schlechte Pflege. Oder für gar nicht erbrachte.

Kurzfristig helfen könnte manches. Unangemeldete Prüfungen etwa, wie es sie bisher nur in Pflegeheimen gibt. Eine engere Zusammenarbeit von Sozialbehörden, Kassen und Ermittlern. Härtere Strafen für aufgeflogene Betrüger, besserer Schutz von Whistleblowern. Patientenquittungen, auf denen Pflegekunden die erbrachten Leistungen und Preise abzeichnen müssen...

Langfristig hilft nur ein deutlich transparenteres System. Demoskopen zufolge wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2050 von 2,7 auf 4,6 Millionen steigen. Das heißt: Noch mehr Geld, noch mehr Verlockung zum Betrug. Schon im nächsten Jahr fließen weitere drei Milliarden ins System.

Insofern ist der Zeitpunkt der Skandalmeldungen vielleicht doch nicht so schlecht.

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