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Der Präsident des Landgerichts Berlin, Holger Matthiessen, fordert den Senat zum Handeln auf (Archivbild).

© Mike Wolff

Überlastete Justiz in der Hauptstadt: Berlin braucht wieder drei Landgerichte. Eine Reform ist jetzt möglich.

Der Präsident des Berliner Landgerichts appelliert an den Senat, die überlastete Institution aufzusplitten. Ein Gastkommentar.

Holger Matthiessen, 1964 in Reinbek bei Hamburg geboren, ist seit August 2019 Präsident des Berliner Landgerichts. Er war bereits von 2007 bis 2013 Vizepräsident des Landgerichts Berlin. Zwischenzeitlich amtierte er als Präsident des Landgerichts Frankfurt (Oder).

Schon oft ist über die Struktur des übergroßen, auf drei historische Gerichtsgebäude in der Stadt verteilten Berliner Landgerichts diskutiert worden. Zu einer grundlegenden Reform hat sich die Landespolitik bislang gleichwohl nicht durchringen können. Der an sich nahe liegenden Verselbstständigung der im Moabiter Kriminalgericht angesiedelten Strafkammern stand bislang die Regelung in Paragraph 60 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) entgegen, nach der ein Landgericht aus Zivil- und Strafkammern bestehen musste.

Jetzt gibt es die historische Chance für Veränderung

Um Berlin die dringend gebotene Reform seines Landgerichts zu ermöglichen, hat der Bundesgesetzgeber die Norm zum 1. Januar 2021 geändert. Senat und Abgeordnetenhaus sollten diese historische Chance nutzen und drei selbstständige Landgerichte schaffen.

Im Kriminalgericht in Moabit arbeiten mehr als 170 Richterinnen und Richter des Landgerichts, Tendenz weiterhin steigend. Allein dieser Standort ist größer als die allermeisten Landgerichte in Deutschland. Für den Vorsitz der Strafkammern werden dringend erfahrene Strafrichter benötigt, besetzt werden die Kammern aber nicht selten mit Zivilrichtern – Planstellen für Vorsitzende können für das eine Landgericht nur einheitlich ausgeschrieben werden, und die Auswahl erfolgt dann nach dem Leistungsprinzip. Hat ein Zivilrechtler die beste Beurteilung, bekommt er die Stelle, auch wenn er dann eine Strafkammer leiten muss.

Häufig müssen Zivilrichter Strafkammern vorsitzen

Auch die in der Littenstraße in Mitte und im Tegeler Weg in Charlottenburg ansässigen Zivilkammern brauchen für ihre Sondergebiete, etwa Arzthaftungs-, Bau- oder Wettbewerbssachen, erfahrene Spezialisten, die heute stattdessen häufig den Vorsitz in einer Strafkammer in Moabit führen müssen. Eine gezielte Personalentwicklung für beide Bereiche? Schwierig, wenn nicht gar unmöglich.

Das im Jahr 1906 in Dienst genommene Kriminalgericht ist weit von den Anforderungen an ein modernes Strafjustizgebäude entfernt. Es fehlt an modernen Sälen, die dem Stand der Technik und den Geboten der Barrierefreiheit entsprechen, und an vielem anderen mehr.

Das Kriminalgericht benötigt dringend eine Landgerichtspräsidentin oder einen Landgerichtspräsidenten in seinen Mauern, um mit aller Kraft und gemeinsam mit dem Amtsgericht Tiergarten und der Staatsanwaltschaft die notwendigen Modernisierungsmaßnahmen anzustoßen und zu steuern.

Tatsächlich ist die Verwaltung des Landgerichts aber zugleich für zwei weitere historische Gebäude zuständig, die ebenfalls mit moderner Technik ausgestattet werden müssen, um fristgerecht zum 1.1. 2026 die elektronische Gerichtsakte einführen zu können. Mission impossible?

Die zentrale Registratur kann Eingang der Klageschriften nicht mehr bewältigen

Die schiere Größe des Gerichts führt vor allem in den Zivilsachen zu kaum lösbaren Kapazitätsproblemen. Für die Erfassung der zum Jahresende eingehenden – Regalwände füllenden – Klageschriften benötigt die Eingangsregistratur am Tegeler Weg selbst bei der allergrößten Beschleunigung mehr als einen Monat. Andernorts undenkbar! Die Beschaffung einer technischen Ausstattung, die den Ausdruck der Fax- und elektronischen Eingänge bewältigen könnte? Kaum mehr realisierbar!

Dabei könnte es so einfach sein. Bei einer Errichtung von drei Gerichten in den drei Gebäuden ließen sich viele Probleme auf einen Schlag lösen. Die Zuständigkeit der Strafkammern bliebe unverändert. Für die beiden Zivilgerichte müsste eine räumliche Zuständigkeitsverteilung nach Amtsgerichtsbezirken gefunden werden, die einem jeden Klägeranwalt wie bei einer Klage vor dem Amtsgericht eine klare Zuordnung ermöglicht.

Um eine Grenzziehung entlang des alten Mauerverlaufs zu vermeiden, ließen sich etwa dem Landgericht in der Littenstraße die Bezirke der Amtsgerichte Köpenick, Lichtenberg, Mitte, Neukölln, Tempelhof-Kreuzberg und – sollte dieses hinzukommen – auch des Amtsgerichts Marzahn-Hellersdorf zuordnen, dem Landgericht am Tegeler Weg die Bezirke der Amtsgerichte Charlottenburg, Pankow/Weißensee, Schöneberg, Spandau und Wedding. Viele Schwierigkeiten wären halbiert. Drei Landgerichte wären um ein Vielfaches effizienter als das eine.

Die Zentralisierung der ursprünglich drei Gerichte geht auf die Nazis zurück

Neu ist diese Idee übrigens nicht. Bis 1933 bestanden in Berlin drei Landgerichte, das Gericht in Mitte führte die Ordnungsziffer I, das Gericht in Charlottenburg die Nr. III. In Kreuzberg war das Landgericht Berlin II angesiedelt. Erst die Nationalsozialisten haben sie zu einem Gericht vereinigt, um auch hier ihr Führerprinzip zu verwirklichen. Wahrlich kein Grund, um an dieser Struktur festzuhalten, die die Umbruchjahre 1945 und 1990 auch nur aus spezifischen, heute nicht mehr gegebenen Notlagen heraus überlebt hat!

Kein verantwortungsvoller Justizpolitiker käme heute auf die Idee, ein Gericht mit fast 400 Richterstellen zu schaffen, bei dem pro Jahr 20000 neue Zivilklagen und fast 800 Anklageschriften eingehen, und dieses Gericht auf drei Gebäude im Stadtgebiet zu verteilen.

Warum sollte man hieran dann nach der Änderung des Paragraphen 60 GVG festhalten? Um eine bessere Struktur zu entwerfen und umzusetzen, braucht es nur etwas Mut und Fantasie. An beiden Eigenschaften sollte es in dieser großartigen Stadt nicht fehlen.

Holger Matthiessen

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