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Qualm über dem Azot-Chemiewerk in Sjewjerodonezk (am 10. Juni 2022)

© Reuters/Oleksandr Ratushniak

Azot-Fabrik im Donbass: Ein Chemiewerk wird zum Mittelpunkt der Kämpfe um Sjewjerodonezk

Hunderte Zivilisten sollen noch auf dem Fabrikgelände ausharren. Der Fall Azot erinnert stark an die Azovstal-Ereignisse. Ein Überblick.

Die Lage in der ukrainischen Stadt Sjewjerodonezk spitzt sich Berichten zufolge weiter zu. Die strategisch wichtige Industriestadt im Osten der Ukraine ist stark umkämpft und wird mittlerweile größtenteils von russischen Separatisten kontrolliert. Im örtlichen Chemiewerk Azot sollen immer noch Hunderte ukrainische Zivilisten in Schutzbunkern ausharren.

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Nachdem das russische Militär am Sonntag die dritte und damit letzte Brücke über den Fluss Siwerskyj Donez zerstört hatte, sind die verbliebenen Einwohner der Stadt Sjewjerodonezk von russischen Streitkräften eingekesselt worden und damit von der Außenwelt abgeschnitten.

Dem britischen Verteidigungsministerium zufolge könnten Flussüberquerungspunkte wie die in Sjewjerodonezk in den kommenden Monaten eine immer wichtigere Rolle im Kräftemessen zwischen Russland und der Ukraine spielen.

Moskau hatte der Ukraine für Mittwoch zunächst einen sicheren Fluchtkorridor in Aussicht gestellt, um eine Evakuierung der eingeschlossenen Menschen zu ermöglichen, diesen jedoch dann als gescheitert erklärt.

Die Ereignisse in der Chemiefabrik erinnern stark an die eingeschlossenen ukrainischen Kämpfer im Asovstal-Stahlwerk von Mariupol.

Was wissen wir über die eingeschlossenen Menschen?

Wie das britische Verteidigungsministerium in seiner täglichen Lageeinschätzung via Twitter bekannt gab, sollen in den unterirdischen Bunkern der Chemiefabrik aktuell Hunderte ukrainische Zivilisten, aber auch Soldaten Zuflucht suchen. Laut der Geheimdienste seien die russischen Streitkräfte vermutlich direkt in und um Azot stationiert, während die ukrainischen Kämpfer weiterhin unterirdisch überleben.

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Der Chef der städtischen Militärverwaltung Olexander Strjuk sprach laut der Nachrichtenagentur dpa im ukrainischen Fernsehen konkret von bis zu 560 Zivilisten, die sich immer noch in Bombenschutzkellern auf dem Werksgelände befinden sollen. Im Chemiewerk soll für „gewisse Vorräte“ gesorgt worden sein, sagte Strjuk. Polizisten und Militär würden aktuell Hilfe leisten, hieß es.

Nach Informationen der „Washington Post“ sollen sich laut dem Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, aktuell noch 40 Kinder in den Schutzbunkern befinden. Während der russischen Bombardierung seien die Einwohner von Sjewjerodonezk aus ihren Häusern, den Kindergärten und dem örtlichen Gewerbegebiet in die unterirdischen Schutzbunker auf dem Fabrikgelände geflohen.

Das Chemieunternehmen Azot galt vor dem Krieg als einer der größten ukrainischen Hersteller für Stickstoffdüngemittel und beschäftigte rund 6000 Mitarbeiter.

Wie ist die humanitäre Lage im Chemiewerk?

Über den gesundheitlichen Zustand der im Chemiewerk verschanzten Menschen oder die humanitäre Lage ist bisher wenig bekannt. Die „Washington Post“ berichtete von extremen Bedingungen, unter denen sich die Eingeschlossenen unter der Erde vor den regelmäßigen Bombardierungen verstecken müssten.

So wurde beispielsweise von der 68-jährigen Lyubov Nefedova berichtet, die während des russischen Beschusses in einen Schutzkeller floh. Hier lebe die Bewohnerin der Stadt Lysychansk bereits seit Februar fast in völliger Dunkelheit. Nachts schlafe sie auf Stühlen und finde Trost bei ihrer Schwester, die stets neben ihr schlafe.

Zivilisten in einem Bunker auf dem Gelände des Chemiewerks Azot in Sievierodonetsk am 6. April 2022. (Archivbild)
Zivilisten in einem Bunker auf dem Gelände des Chemiewerks Azot in Sievierodonetsk am 6. April 2022. (Archivbild)

© Marko Djurica/Reuters

Der „Washington Post“ sagte Nefedova: „Ich wurde hier geboren. Ich lebe hier.“ Weil sie sich aber selbst in ihrer nahegelegenen Wohnung nicht mehr sicher fühle, verlasse sie diesen Ort nicht.

Was ist über den geplanten Fluchtkorridor bekannt?

Nach dpa-Informationen hatte Moskau für Mittwoch einen humanitären Korridor zur Evakuierung des Chemiewerks angekündigt. Der Korridor sollte ganztägig von sieben Uhr bis 19 Uhr MESZ (Ortszeit: von acht Uhr morgens bis 20 Uhr abends) offen sein und den Zivilisten bis in den Abend hinein eine Flucht aus dem stark umkämpften Gebiet ermöglichen.

Der Gouverneur des Luhansker Gebiets, Serhij Hajdaj, hatte sich aber nicht dazu geäußert. Der humanitäre Korridor sollte von der Chemiefabrik aus in nördliche Richtung in die Stadt Swatowe führen, die aktuell allerdings von prorussischen Separatisten kontrolliert wird.

Mittlerweile warfen prorussische Separatisten der Ukraine vor, den Fluchtkorridor und damit die sichere Evakuierung der Zivilisten gestört zu haben. Die Evakuierungsaktion gelte damit als gescheitert, wie die russische Nachrichtenagentur RIA meldete.

Der Separatistenvertreter Rodion Miroschnik gab an, dass die ukrainischen Kämpfer die russischen Streitkräfte vom Werksgelände aus mit Granatwerfern und Panzern beschießen würde. So könnten keine Menschen in Sicherheit gebracht werden. Diese Angaben sind unabhängig nicht prüfbar.

Azot-Chemiefabrik vs. Azovstal-Stahlwerk: Welche Parallelen gibt es?

Der Fall der eingeschlossenen ukrainischen Menschen in der Chemiefabrik erinnert an die Vorfälle im Azovstal-Stahlwerk in Mariupol, in dem sich im vergangenen Mai ebenfalls ukrainische Kämpfer und Zivilisten auf einem Fabrikgelände verschanzt hatten.

Russland räumte den damals eingeschlossenen Ukrainern einen Fluchtkorridor ein, bei dem zunächst mehrere Zivilisten via Buskonvoi aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal evakuiert wurden. Die große Evakuierungsaktion wurde von Mitarbeitern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) begleitet.

Laut des russischen Verteidigungsministeriums seien damals etwa 80 Menschen in das Dorf Besimenne nahe der russischen Grenze gebracht und dort versorgt worden. Zivilisten, die anschließend weiter in die ukrainisch kontrollierten Gebiete reisen wollten, seien Vertretern von der UN und dem IKRK übergeben worden.

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Die im Stahlwerk verbliebenen ukrainischen Kämpfer hatten sich nach wochenlangem Ausharren schließlich ergeben. Mittlerweile ist die ganze Stadt Mariupol sowie auch das Stahlwerk unter gänzlich russischer Kontrolle.

Im Fall des Chemiewerks Azot soll der von Russland angekündigte Fluchtkorridor direkt nach Swatowe führen. Diese Kleinstadt wird von prorussischen Separatisten kontrolliert und liegt in der sogenannten „Volksrepublik Luhansk“, die von Moskau bereits als eigenständiger Staat anerkannt wurde.

Zivilisten in einem Bunker auf dem Gelände des Chemiewerks Azot in Sievierodonetsk am 6. April 2022. (Archivbild)
Zivilisten in einem Bunker auf dem Gelände des Chemiewerks Azot in Sievierodonetsk am 6. April 2022. (Archivbild)

© Marko Djurica/Reuters

Den Vorschlag von Kiew, die Menschen auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet fliehen zu lassen, lehnte Moskau bislang ab. Der russische General Michail Misinzew unterstellte hingegen, dass Kiew mit solch einem Korridor nur die bewaffneten Kämpfer aus Sjewjerodonezk herausschleusen wolle, wie es bei dem Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol der Fall gewesen sein soll.

Der General des russischen Verteidigungsministeriums forderte die ukrainischen Soldaten hingegen auf, sich unverzüglich zu ergeben. Moskau kündigte für diesen Fall an, das Leben der Kriegsgefangenen zu verschonen.

Auch die Kämpfer des Azovstal-Stahlwerks in Mariupol hatten sich nach einer wochenlangen Besetzungsphase schließlich ergeben und wurden evakuiert. Bei der Eroberung der ukrainischen Hafenstadt waren damals Tausende ukrainische Kämpfer in Gefangenschaft gekommen. Welche Strafen den Soldaten nach dem Prozess drohen und ob sie angesichts des Austritts Russlands aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit einer Todesstrafe rechnen müssen, ist allerdings unklar.

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