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Armenien bietet Sevan Nisanyan jetzt Zuflucht.

© Susanne Güsten

Autor und Aktivist Sevan Nisanyan flieht aus Griechenland: Zu armenisch und zu türkisch

In der Türkei wird er für Geschichtsarbeit verfolgt, in Griechenland der Türkifizierung beschuldigt. Muss Autor und Aktivist Sevan Nisanyan jetzt nach Armenien?

Fünf Jahre nach seiner Flucht aus einem Gefängnis in der Türkei ist der türkisch-armenische Intellektuelle Sevan aus Griechenland ausgewiesen worden, wo er seitdem lebte. Nisanyan reiste diese Woche aus, um seiner für Samstag angedrohten Deportation zuvorzukommen. Zu armenisch für die Türkei, zu türkisch für Griechenland: Die Frage ist nun, wie es für den 65-jährigen Kulturwissenschaftler weitergehen soll. Nisanyan appellierte im Gespräch mit dem Tagesspiegel an die EU, die griechische Regierung wegen Verstoßes gegen grundlegende Rechtsnormen zur Rede zu stellen. Bis heute sei ihm kein Grund für seine Ausweisung genannt worden.

Der Intellektuelle, der an der amerikanischen Yale-Universität studierte und an der Columbia-Uni promovierte, ist Autor des bedeutendsten etymologischen Wörterbuchs der türkischen Sprache. Zu seinen Werken zählt auch ein Atlas von Anatolien, der die historischen Namen von über 50.000 Orten in der Türkei indiziert. Wäre Nisanyan ein deutscher oder französischer Intellektueller, würde er ob seiner Verdienste wohl gerne in Talkshows herumgereicht.

Er hat den sanften Tourismus für die Türkei entdeckt

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Nisanyan in den 2000er Jahren mit seinem Engagement für nachhaltigen Tourismus in der Türkei bekannt. Er versuchte, den Fremdenverkehr von betonierten Bettenburgen in natur- und kulturgerechte Boutiquehotels umzulenken. Sein „Buch der Kleinen Hotels“ inspirierte eine Generation von Reisenden und auch Hoteliers zum sanften Tourismus.

Das Dorf Sirince an der türkischen Westküste machte Nisanyan zum Kulturerbe
Das Dorf Sirince an der türkischen Westküste machte Nisanyan zum Kulturerbe

© picture alliance / Zoonar

Zum Verhängnis wurde Nisanyan sein Engagement für das Kulturerbe von Anatolien. Er setzte sich sehr für den Erhalt eines verfallenen griechischen Dorfes an der türkischen Westküste ein. Zwar gelang es ihm, das Dorf Sirince zum Kulturerbe erklären zu lassen. Er selbst wurde dafür aber wegen ungenehmigter Restaurierung vor Gericht gestellt. Weitere Haftstrafen kamen hinzu, als er sich öffentlich für das Recht auf kritische Auseinandersetzung mit dem Propheten Muhammed einsetzte. Anfang 2014 trat er deshalb eine mehrjährige Haftstrafe an.

„Der Vogel ist ausgeflogen“, meldete sich Nisanyan im Sommer 2017 per Twitter. Er hatte einen Hafturlaub genutzt, um aus der Türkei zu fliehen und sich über die Ägäis nach Griechenland abzusetzen. Nun wünsche er noch allen anderen 80 Millionen Türken die Freiheit, fügte Nisanyan hinzu. Einen Asylantrag in Griechenland zog er zurück, als er 2019 die griechische Staatsbürgerin heiratete und Aufenthaltsrecht erhielt.

Die Restaurierung des Kulturerbes wird in der Türkei kritisch gesehen - und in Griechenland auch

Das Paar ließ sich auf der Insel Samos nieder, wo sich Nisanyan wieder der Restaurierung verlassener Dörfer und verfallener Häuser zuwandte. Der Frieden währte auch auf der griechischen Insel nicht lange. Weil der Armenier und seine griechische Frau beide gebürtig aus Istanbul stammen, verbreitete sich auf Samos das Gerücht, sie wollten die Insel türkifizieren. Demnächst würden sie womöglich eine Moschee auf Samos errichten, empörten sich die Inselbewohner über Nisanyan und seine Frau – die beide Christen sind.

Nichts hatte Nisanyan aber darauf vorbereitet, dass er jetzt von Griechenland zum Sicherheitsrisiko und zur unerwünschten Person erklärt wurde. Zum Jahreswechsel wurde er festgenommen und eine Woche inhaftiert, bevor ein Gericht am 7. Januar seine Deportation anordnete – ohne Angabe von Gründen, wie er dem Tagesspiegel sagte.

Um der für 22. Januar angedrohten Deportation zuvorzukommen, reiste Nisanyan am Dienstag nach Frankreich aus. Von Paris aus werde er wohl nach Armenien gehen, sagte er. Armenien hatte ihm nach der Flucht aus der Türkei die Staatsbürgerschaft gegeben und bietet ihm jetzt Zuflucht an. Diese Aussicht erfülle ihn mit Bangen, sagte der 65-jährige: „Noch einmal von Null anzufangen in einem fremden Land, das ist beängstigend.“

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