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Mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention erfüllt Recep Tayyip Erdogan eine Forderung islamistischer Kreise

© picture alliance/dpa

Austritt aus Frauenschutz-Konvention: Erdogan wird immer autoritärer

Der türkische Präsident verschlechtert die Menschenrechtslage in seinem Land weiter. Inzwischen wird schon gespottet: Wann folgt die Ausrufung zum Sultan?

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Frauenrechts-Konvention des Europarats aufgekündigt. Per Präsidialdekret erklärte Erdogan in der Nacht zum Samstag den Austritt der Türkei aus dem so genannten Istanbul-Abkommen, das er vor zehn Jahren als Ministerpräsident selbst unterschrieben hatte. Gleichzeitig feuerte Erdogan den Zentralbankchef Naci Agbal, der gegen seinen Willen die Leitzinsen erhöht hatte. Erst vor wenigen Tagen hatte die Regierung das Verbot der Kurdenpartei HDP eingeleitet, was die Opposition schwächt und die Nationalisten stärkt. Beobachter nehmen an, dass Erdogan vorgezogene Neuwahlen vorbereitet.

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Mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention erfüllt Erdogan eine Forderung islamistischer Kreise, die den Vertrag als westliches Instrument zur Unterwanderung der Familie ablehnen. Die Konvention verpflichtet die teilnehmenden Staaten zum Kampf gegen häusliche Gewalt. Türkische Islamisten kritisieren, das Abkommen fördere die Homosexualität. Am Samstag feierten sie den Austritt aus der Konvention als Erfolg.

Dagegen gingen Frauengruppen in mehreren Städten gegen Erdogans Entscheidung auf die Straße. In Ankara nahm die Polizei mehrere Demonstrantinnen fest. Nach Zählung einer Frauenorganisation wurden in diesem Jahr bereits 78 Frauen in der Türkei zum Opfer häuslicher Gewalt; im vergangenen Jahr starben mehr als 400 Frauen. Die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejcinovic Buric, nannte Erdogans Schritt am Samstag einen „schweren Rückschlag“. Der Türkei-Berichterstatter im EU-Parlament, Nacho Sanchez Amor, schrieb auf Twitter, Erdogans Regierung habe ihr „wahres Gesicht“ gezeigt.

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Auch in Erdogans Partei AKP gab es Befürworter des Abkommens: Sümeyye Erdogan-Bayraktar, eine Tochter des Präsidenten, ist Vizechefin eines Frauenverbandes, der sich für die Beibehaltung der Istanbul-Konvention ausgesprochen hatte. Erdogan selbst hatte sich noch vor zwei Wochen ausdrücklich zu den Zielen der Konvention bekannt, als er einen Plan zur Verbesserung der Menschenrechtslage vorstellte.

Doch nun hat Erdogan andere Prioritäten. Der Präsident versucht, den Popularitätsverlust seiner AKP und ihrer rechtsnationalen Partnerin MHP aufzuhalten: Mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention umwirbt er islamistische Wähler; mit dem angestrebten HDP-Verbot spricht er türkische Nationalisten an. Zudem will er ein Oppositionsbündnis schwächen, das der AKP bei den Kommunalwahlen vor zwei Jahren schwere Niederlagen beibrachte.

Menschenrechtspolitiker aus dem Parlament entfernt

Erdogan ist offenbar sicher, dass Europa ihm diesen harten Kurs durchgehen lässt. Seine Regierung hat innerhalb weniger Tage einen bekannten Menschenrechtspolitiker aus dem Parlament entfernt, über die regierungstreue Justiz den Verbotsantrag gegen die HDP – die drittstärkste politische Kraft im Land – auf den Weg gebracht und den Vorsitzenden des Menschenrechtsverbandes IHD festnehmen lassen.

Die Reaktionen aus Europa blieben sehr zurückhaltend. Erdogan fand zwischen dem HDP-Verbotsantrag und dem Austritt aus dem Istanbul-Abkommen noch Zeit für ein Gespräch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. In der anschließenden Mitteilung der EU wurde das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Opposition und die Menschenrechtler nicht erwähnt.

Von der regierungsnahen Justiz ist kein Einspruch zu erwarten

Kritiker werfen Erdogan vor, mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention seine Kompetenzen überschritten zu haben – doch von der größtenteils regierungsnahen Justiz ist kein Einspruch zu erwarten. Zur Allmacht Erdogans fehle nur noch die Ausrufung des Sultanats, spottete der Oppositionsabgeordnete Ahmet Sik.

Die Entlassung von Zentralbankchef Agbal folgt nach Meinung von Beobachtern ebenfalls wahltaktischen Überlegungen. Agbal hatte am Donnerstag die Leitzinsen erhöht, um die Inflation von 15,6 Prozent zu bekämpfen. Erdogan dringt jedoch auf niedrige Zinsen, weil er die krisengeplagte Wirtschaft mit billigen Krediten versorgen will. Agbals Nachfolger, der frühere AKP-Abgeordnete Sahap Kavcioglu, ist der vierte türkische Zentralbankpräsident in weniger als zwei Jahren und gilt als loyaler Erdogan-Anhänger. Der Präsident wolle eine willfährige Zentralbank, die ihm teure Wahlgeschenke ermögliche, schrieb der Politologe Karabekir Akkoyunlu auf Twitter. „Es sieht so aus, als bereite Erdogan vorgezogene Neuwahlen vor.“

Am Mittwoch will sich der 67-jährige Erdogan bei einem AKP-Parteitag in Ankara als Parteichef wiederwählen lassen und die Partei auf die nächste Wahl ausrichten; auch eine Kabinettsumbildung wird erwartet. Nominell stehen erst 2023 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an, doch die Opposition ist sicher, dass Erdogan nicht so lange warten wird. Die oppositionelle IYI-Partei rechnet mit Wahlen noch in diesem Frühsommer.

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