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Nation und Region: Ein Mann und eine Frau mit einer spanischen und einer katalanischen Fahne um die Schulter gehen bei einem Protestmarsch in Barcelona (Spanien) eine Straße hinunter.

© Manu Fernandez/AP/dpa

Aufstieg des Nationalismus: Schluss mit dem Souveränitätstheater

Am Donnerstag wählt Katalonien sein neues Regionalparlament. Die Unabhängigkeitsbewegung zeigt: Der Nationalstaat steckt in der Krise. Gibt es Auswege? Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Am Donnerstag wählen die Katalanen ein neues Parlament. Die Wahl wird auch als indirektes Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens angesehen. Umfragen sagen ein knappes Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern voraus. Die Wurzeln des Konflikts zwischen der Region Katalonien und dem Staat Spanien reichen tief in die Geschichte. Doch die katalanische Nationalbewegung steht auch für eine seltsam ambivalente Weltlage: Sie ist Teil des erstarkenden Nationalismus in ihrer engen historisch-kulturellen Definition der Gemeinschaft von Menschen, die den herbeigesehnten eigenen Staat bilden soll. Sie ist Teil der Krise des Nationalstaates, dem sie die Legitimität und Fähigkeit abspricht, die Interessen der Katalanen zu vertreten. Zuletzt wandte sich der abgesetzte katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont auch gegen die Europäische Union und bezeichnete sie als „Club dekadenter Auslaufmodelle, der von wenigen kontrolliert wird“.

Was ist die beste Organisationsform und -größe für politisches Zusammenleben und gemeinsames politisches Handeln?

In Katalonien stellen sich im Kleinen Fragen, die derzeit an vielen Orten der Welt relevant sind: Was ist die beste Organisationsform und -größe für politisches Zusammenleben und gemeinsames politisches Handeln? Wie groß, vor allem aber auch wie offen darf sie sein, die Polis? Ist der Traum von der Überwindung des Nationalstaates ausgeträumt? Erleben wir eine Re-Nationalisierung – oder den Zerfall in noch kleinere Einheiten? Und wie könnte man dem Einhalt gebieten?

Nach dem Ende des Kalten Krieges, in den 90er und beginnenden 2000er Jahren, hielten liberale Kosmopoliten es für denkbar, dass der Nationalstaat überwunden werden könnte. Die ökonomische Globalisierung, gemeinsame Menschheitsprobleme wie Ressourcenknappheit und der Klimawandel, das Management des Internets und der globalen Finanzströme erforderten ein zunehmendes Maß an globaler Kooperation, während durch die kulturelle Globalisierung nationale Eigenheiten und kulturelle Unterschiede abnahmen, lautete die These. Saskia Sassen beschreibt in ihrem 2006 erschienen Buch „Territory, Authority, Rights“ den Nationalstaat fast schon als vorübergehende Erscheinung der Weltgeschichte. Der Nationalstaat habe als Kolonialstaat mit starken ökonomischen Interessen die Globalisierung angetrieben – um letztlich von ihr überwunden zu werden, um aufzugehen in internationalen Systemen der Zusammenarbeit wie dem Bretton-Woods-System zur Stabilisierung der Wechselkurse oder der Welthandelsorganisation. Sassen und andere schrieben an gegen das Gefühl, der Nationalstaat sei die beste und einzig denkbare Organisationsform politischer Gemeinschaften. „Es war nichts natürlich, leicht oder vorherbestimmt am Nationalen“, schrieb Sassen. Postnationale Utopisten träumten und träumen, überspitzt formuliert, von fluiden Grenzen, von Gemeinschaften die, losgelöst von der mit dem Blut der Ahnen getränkten Erdigkeit des Nationalen virtuelle Gemeinschaften formen, von einer Welt, die den kosmopolitischen Gedanken der Verantwortung aller für alle umarmt.

Dem entgegen steht heute ein neuer Nationalismus – in Ungarn, Polen, Österreich, Frankreich, Deutschland und nicht zuletzt in den USA. International wollen nationalistische Politiker nur so weit mit anderen zusammenarbeiten, wie die ureigenen Interessen reichen. Donald Trumps nationaler Sicherheitsberater Herbert McMaster und Gary Cohn, der dem nationalen Wirtschaftsrat vorsteht, haben das vor einem halben Jahr im Wall Street Journal so formuliert: „Solche Gesellschaften, die unsere Interessen teilen, werden keinen treueren Freund als die Vereinigten Staaten finden. Jenen, die uns herausfordern, werden wir mit größter Entschlossenheit begegnen.“

Es war einmal der Traum vom Überwinden des Nationalstaats

Dafür, eine Schubumkehr auszurufen, ist es zu früh. Weder hat der Nationalismus gewonnen, noch die Idee des Postnationalismus verloren. Optimisten führen stets an, dass Trump zwar das Pariser Klimaabkommen kündigen will, viele US-Bundesstaaten aber weiterhin mitmachen. Sie betonen, dass die Europäische Union gerade die Verteidigungszusammenarbeit intensiviert und dass nach Trumps Absage an das Transpazifische Freihandelsabkommen die übrigen Staaten daran festhalten. Und dass Politiker wie der kanadische Premierminister Justin Trudeau, der sein Land als ersten „postnationalen Staat der Welt“ bezeichnet, Wahlen gewinnen (ein interessanter Ausschnitt aus der Debatte hier im Blog von Judy Dempsey). Aus dieser kosmopolitischen Sicht ist der Nationalismus eine Krankheit, die man schon besiegt glaubte, die nun aber dennoch überraschend die Moderne befallen hat .

Nationalistische Bewegungen werden von Liberalen als Pathologie gesehen, weil sie vor allem als ethnisch-kulturelle Bewegungen verstanden werden. Tatsächlich definieren viele Nationalisten den Nationalstaat als etwas Organisches, eine Art kollektives Wesen, zusammengehalten durch eine „angeborene“ Kultur. „Kulturen, Sprachen und nationale Identitäten“, heißt es im Parteiprogramm der AfD, seien „unverzichtbare Identifikationsräume, die nur in nationalen Staaten mit demokratischer Verfassung wirkungsvoll ausgestaltet werden können.“ Trumps rassistische Ausfälle gegen Immigranten aus Mexiko und die Islamophobie in den Niederlanden und Frankreich sind Ausdruck dieser Vorstellung. In Deutschland kreist die Debatte um die nationale Identität um Fragen wie: Wer gehört dazu? Was ist die deutsche Leitkultur? Gehört der Islam zu Deutschland?

Die Kosmopoliten steigen in die Debatte ein und halten dagegen. Dabei unterspielen auch sie, dass die globale Anfechtung des Nationalstaates nicht nur eine vage nationale Identität betrifft, sondern auch den tatsächlichen Verlust von Selbstwirksamkeit bedeutet.

Der Nationalstaat verliert die Kontrolle - und mit ihm die Bürger

Im Oktober, bei einem Gedenksymposium aus Anlass des 40. Todestages Hanns Martin Schleyers, kritisierte der Mainzer Historiker Andreas Rödder die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung scharf und porträtierte sie als fahrlässiges Aufgeben nationaler Souveränität. Er erinnerte an die klassische Definition des Nationalstaates über den Dreiklang aus Staatlichkeit, Staatsvolk und Staatsgebiet und sagte, dieses Staatsgebiet gehöre kontrolliert, seine Grenzen gehörten kontrolliert. Bundesinnenminister Thomas de Maizière widersprach auf das Heftigste. Diese Definition mache nur noch bedingt Sinn, denn seit Schengen liege die deutsche Außengrenze am Mittelmeer. Oder liegt sie nicht seit dem EU-Türkei-Abkommen zwischen Syrien und der Türkei? Oder liegt sich nicht nach den Vereinbarungen des EU-Afrika-Gipfels zur Migrationskontrolle zwischen Libyen, Niger und Tschad? Die Forderung nach mehr Grenzkontrolle als Akt nationaler Souveränitätsbehauptung führt zu weiteren Entgrenzungen.

Staatlichkeit, Staatsvolk und Staatsgebiet haben im Zuge der Globalisierung ihre Eindeutigkeit verloren. Was heißt denn noch Staatlichkeit? Große Unternehmen entziehen sich durch die geschickte Verflechtung von Tochterunternehmen der Besteuerung. Sie werden gleichzeitig selbst zu quasi-staatlichen Akteuren. Facebook zum Beispiel baut in Schwellenländern Asiens und Afrikas die Internet-Infrastruktur aus – und macht sich dabei selbst zum Regulierer, indem es kontrolliert, welche Dienste die Menschen nutzen können und welche nicht. „Unternehmen erobern aktiv staatliche Räume, sie praktizieren digitalen Kolonialismus, besonders in Afrika“, sagte Cathryn Clüver Ashbrook von der Harvard Kennedy School kürzlich bei einem Workshop des Holbrooke Forums der American Academy zu den Folgen der Digitalisierung für die internationalen Beziehungen.

Der Workshop fand nicht zufällig im estnischen Tallinn statt. Das kleine Estland (43 000 Quadratkilometer, 1,3 Millionen Einwohner) fährt eine offensive Strategie, sein Territorium digital zu erweitern und stellt damit auch die klassische Definition von „Staatsgebiet“ infrage. Digitale Unternehmen können ihren Sitz virtuell nach Estland verlegen und von dessen einfachem Steuersystem profitieren. Die Daten seiner Bürger sichert das hochdigitalisierte Land übrigens seit diesem Jahr aus Angst vor russischen Cyberangriffen auch auf Servern auf luxemburgischem Boden unter estnischem Recht – eine Art „digitale Kopie“ Estlands auf virtuellem Territorium. Virtuelle Rechtsräume (zum Beispiel Datenschutzabkommen), internationale Verträge (Freihandelsabkommen, Klimaverträge) und internationale Organisationen (UN, EU, WTO) entkoppeln Rechtsraum und Territorium und schaffen ein Wirrwarr von Anforderungen, die der Nationalstaat erfüllen muss.

Die enttäuschte Erwartung an die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates erzeugt Wut

Aus der Perspektive der meisten Bürger ist der Nationalstaat allerdings weiterhin der alleinige Vertreter ihrer Interessen, das Instrument ihres politischen Handelns – nach innen wie nach außen. Die enttäuschte Erwartung an die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates erzeugt Wut. Auf dem Hanns-Martin-Schleyer-Symposium, das vor allem liberal-konservative Akademiker, darunter viele Juristen, zusammenbrachte, war das deutlich zu spüren. Noch heute ist Kontrollverlust das zentrale Motiv, das die Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik treibt. „Staatsversagen“ war und ist ein beliebter AfD-Hashtag. Kontrollverlust, sagen Populismus-Forscher, ist ein starkes Motiv populistischer Bewegungen, gerade das Versagen des Grenzschutzes. Die Staatsgrenze verbindet das ethno-kulturelle mit dem Souveränitätsmotiv der Nationalisten.

Weil nationale Politiker wissen, dass die meisten Menschen weiterhin erwarten, der Nationalstaat sei im Vollbesitz seiner Autorität, spielen sie Souveränitätstheater. Politiker überall auf der Welt versprechen eine Rückkehr der Stahlindustrie, besseren Datenschutz oder Migrationskontrolle – in dem Wissen, dass all diese Vorhaben jederzeit an den Fakten der Globalisierung oder dem mangelnden Kooperationswillen der Nachbarstaaten scheitern können. In den Jamaika-Sondierungsverhandlungen zum Beispiel stritten die drei Parteien über die weitere Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzbedürftige. Das EU-Recht stellt allerdings subsidiär Geschützte den Flüchtlingen nach Genfer Konvention gleich – auch beim Familiennachzug. Nach der Richtlinie 2011/95/EU haben subsidiär Schutzbedürftige also ein Recht auf Familiennachzug. Nach Ansicht mancher Juristen hätte eine Verlängerung der Aussetzung vor europäischen Gerichten keine Chance, sollte jemand klagen.

Es ist schwer zu sagen, was den Nationalismus stärker treibt, ethnisch-kulturelle Trotzgefühle oder der Verlust der Selbstwirksamkeit als Bürger. So oder so lohnt es sich, dem „Kontrollverlust“-Motiv mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Die Angst vor ethnischer und kultureller Vielfalt unter dem Dach des Nationalstaates führt schnell in die Abgründe völkischen und rassistischen Ideenguts. Hier gibt es keine echte Verhandlungsmasse. Beim Verlust bürgerlicher Handlungsfähigkeit und Teilhabe aber gibt es Schnittmengen zu liberalem, kosmopolitischem Denken. Wir sind zwar Weltbewohner geworden, aber nie Weltbürger. Das ist ein Problem, über das auch Kosmopoliten seit mehr als einem Jahrzehnt nachdenken.

Was kann man tun? Schluss mit dem Souveränitätstheater

Was also kann man tun?

Erstens, Kontrollmöglichkeiten schaffen, wo es möglich ist. Dem Bürger in internationalen Organisationen mehr direkte Einflussmöglichkeiten geben, größere Transparenz über Entscheidungswege schaffen und direkte Vertrauens- und damit Kontrollbeziehungen zu den politisch Handelnden schaffen. Im aktuellen Diskurs über die Reform der Europäischen Union spielt das eine viel zu kleine Rolle. Ein Anfang wären zum Beispiel transnationale Wahllisten, wie Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland sie fordern: Plätze im Europäischen Parlament für europaweit antretende Kandidaten. Beginnen könnte man mit den frei werdenden Mandaten der Briten.

Zweitens, Schluss mit dem Souveränitätstheater. Nationale Politiker müssen offener sagen, in welchen Feldern sie die alleinige Regelungskompetenz haben und in welchen Feldern sie sich auf internationale Regeln verpflichtet haben und zu welchem Nutzen. Das verschämte So-tun-als-ob verstärkt die Erwartungen an die nationale Handlungsfähigkeit – und erhöht die Frustration.

Drittens, Staatlichkeit mutiger gegen internationale Unternehmen verteidigen, die Entwicklungs- oder Regulierungsdefizite ausnutzen, durch entschlossene Bündnisse gegen Steuerflucht zum Beispiel. In Indien haben die Regulierungsbehörden auch die Versuche Facebooks gestoppt, sich als Gatekeeper des Internets zu etablieren.

Viertens, zur Umgehung des Vertrauensdilemmas die kleinstnötige Gemeinschaftsgröße zur Lösung eines Problems wählen.

Der neue ethno-kulturelle Nationalismus verschiebt den Sinn nationalstaatlicher Gemeinschaften vom gemeinsamen Handeln auf das gemeinsame Sein. Er richtet den Blick nach innen, quält sich mit Fragen der Mitgliedschaft und restauriert die Nation als abgeschlossene Einheit. Sich stattdessen stärker mit den Verlusten der Menschen als Bürger auseinanderzusetzen, würde ein anderes Bild des Nationalstaates stärken: Als offene Handlungsgemeinschaft in einer postnationalen Welt.

Die Autorin leitet das Meinungsressort des Tagesspiegels. Sie war Teilnehmerin des erwähnten Richard C. Holbrooke Forum Seminars in Tallinn, Estland. Die Reisekosten trug die American Academy.

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