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Ein gefechtsbereites Flugabwehrraketensystem vom Typ „Patriot“ der Bundeswehr

© dpa/Axel Heimken

Neue sozialdemokratische Sicherheitspolitik: Aufrüstung allein ist noch kein Konzept

Für Europa geht es jetzt um die Eindämmung Russlands – und danach um die Bedingungen für eine Zeitenwende in eine friedliche Zukunft. Ein Gastbeitrag.

- Prof. Wolfgang Merkel und Prof. Wolfgang Schroeder sind Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Mitglieder der Grundwertekommission der SPD.

Noch bevor die Ampelkoalition richtig an die Arbeit gehen konnte, hat Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine die politische Landkarte verändert. Neue Weichen müssen gestellt werden. Es geht nicht mehr um die Verteilung der Friedensdividende, sondern um die Herstellung und Sicherung des Friedens selbst.

Olaf Scholz hat dies mit seiner beeindruckenden Rede zur "Zeitenwende" der deutschen Außenpolitik vom 27. Februar 2022 angezeigt. Das letzte Wort war das nicht, die Debatte beginnt erst. Viele Fragen sind offen.

Dabei geht es nicht primär um die zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts und 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Rüstung, obwohl diese immensen Ausgaben eine moderne sozialdemokratische Sozialpolitik haushalterisch durchaus strangulieren können.

[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

Zentral sind aber zunächst drei außenpolitische Perspektiven: Erstens, wie kann eine glaubwürdige funktionale Erneuerung der Bundeswehr als defensiver Verteidigungskraft aussehen? Zweitens, wie wird das Verhältnis Deutschlands zu Russland und der Ukraine aussehen? Drittens, wie fügt sich die neue Ostpolitik in die aufziehende bipolare Weltordnung ein?

Sozialdemokratische Aufrüstung?

Die Notwendigkeit, die Bundeswehr zu modernisieren, ist kaum umstritten. Denn anders kann sie ihren verfassungsgemäßen Aufgaben nicht gerecht werden. Soll diese im parteiübergreifenden Konsens neutral sein oder kann die SPD ihr einen sozialdemokratischen Stempel aufdrücken? Da die Sozialdemokratie selbst einen starken Einfluss auf die Grundlinie einer defensiven und demokratisch eingebetteten Armee genommen hat, geht es nun darum, diese staatspolitische Linie unter veränderten Bedingungen zu reformulieren.

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Es gilt unter anderem, den Schwerpunkt der out-of-area-Einsätze auf die Notwendigkeit der Territorialverteidigung zurück zu verlegen. Aber sozialdemokratische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik erschöpfte sich niemals alleine in der Aufrüstung. Sie war stets eingebunden in eine Sicherheitsarchitektur, die die Interessen,  Ziele  und Bedrohungsperzeptionen des potentiellen "Feindes ernst nahm. Damit fallen wir nicht auf Putins Bedrohungs-Aggressions-Narrativ herein.

Weder die Aggression als solche und schon gar nicht der Zeitpunkt des Angriffskriegs gegen die Ukraine lassen sich maßgeblich auf die Osterweiterung der NATO zurückführen. Allerdings ist eine Politik der unilateralen Perspektive, die die subjektiven Perzeptionen des Gegenübers nicht mit einbezieht, auf Sand gebaut. Dies zeigt auch das „Schlafwandeln“ (Christopher Clark) der europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg hinein.

Zerstörung ohne Ende. Kiew wird immer wieder von den russischen Invasoren beschossen. Im Bild die Trümmer eines Einkaufszentrums. Ein Mitglied der Territorialen Verteidigung steht im Chaos Wache.
Zerstörung ohne Ende. Kiew wird immer wieder von den russischen Invasoren beschossen. Im Bild die Trümmer eines Einkaufszentrums. Ein Mitglied der Territorialen Verteidigung steht im Chaos Wache.

© Andrea Filigheddu/IMAGO/NurPhoto

Ebenfalls deutlich wurde die Notwendigkeit die Wahrnehmungen und Handlungsoptionen aller Seiten mit in eine kluge Lageanalyse einzubeziehen, als John F. Kennedy inmitten der Kubakrise (1962) komplexe Planspiele der multiplen strategischen Optionen der USA und der Sowjetunion durchspielen ließ. Im Mittelpunkt dieser Planspiele standen stets die Bedrohungs- und Handlungsperspektiven des feindlichen Gegenübers. Dies gilt für akute Krisen wie in Kuba damals und der Ukraine heute wie für die längerfristige  Vermeidung solcher Krisen und Kriege.

Eine Aufrüstung der eigenen militärischen Stärke mag nach der fehlgeleiten Beschaffungspolitik  der Bundeswehr notwendig sein, für eine kluge und hinreichend komplexe Sicherheitsarchitektur reicht sie bei weiten nicht. Sie würde im Übrigen radikal mit sozialdemokratischen Traditionen brechen, die sie noch immer von konservativer Sicherheitspolitik unterscheidbar machte.

[Lesen Sie auch: Streit um Milliarden für die Bundeswehr – Verteidigungsministerin Lambrecht stolpert von einer Panne zur nächsten (T+)]

In diesem Sinne dürften schon sehr bald die in der SPD nach wie vor vorhandenen pazifistischen Strömungen als diskursives Korrektiv gegen die Eindimensionalität militärischer Stärke funktionieren. Ohne glaubwürdige militärische Abwehrbereitschaft lässt sich ebenso wenig nachhaltige Sicherheit garantieren wie mit ihr alleine. Dies wussten Willy Brandt und Helmut Schmidt auf ihre je spezifische Weise.

Neue Ostpolitik?

Deshalb wird das Verhältnis Deutschlands und Europas zur Ukraine und zu Russland zu klären sein. Die Feststellung, dass Putin ein geopolitisch expansiv aufgestellter Aggressor ist und das Völkerrecht mit Füßen tritt, ist zentral, ersetzt aber nicht die vom Ende her zu denkende Handlungsorientierung. Das Selbstbestimmungsrecht einer souveränen Ukraine steht außer Frage. Umgekehrt ergibt sich daraus für das Land kein Recht auf Beitritt zu militärischen Bündnissen oder wirtschaftlich-politischen Staatenverbünden. Es kann nicht die Souveränität der NATO oder EU einschränken, alleine über Aufnahmebegehren der Ukraine und anderer Länder zu entscheiden.

Das wankelmütige taktische Spiel im Umgang mit dem NATO-Aufnahmebegehren der Ukraine seit 2008 zeigt: Auch in der NATO gibt es unterschiedliche Interessen, Perzeptionen und  Strategien. Ein  temporäres Moratorium des Aufnahmebegehrens der Ukraine in die NATO sollte heute klar formuliert werden. Alles andere wäre die Fortsetzung taktischen Geplänkels, das seit 2008 dazu beigetragen hat, die Lage zu verklären.

Das normative Beharren auf die Souveränität kleiner und mittlerer Staaten ist richtig, muss aber realistischerweise mit den Interessen der „Großen Mächte“ und Bündnisse verbunden werden. Denn auch wenn man die Politik der Einflusssphären kontrafaktisch als ein Relikt des 19. Jahrhunderts abtut und normativ kritisiert, existiert sie und wurde von den großen Mächten, den USA, China und wegen seiner Nuklearbewaffnung auch Russland, nie verlassen. Davon zeugt nicht nur Putins kriegsverbrecherische Aggression in der Ukraine, sondern auch der ebenfalls herbeigelogene Angriffskrieg der USA gegen den Irak im Jahre 2003. Sollen hat noch selten das Sein bestimmt, schon gar nicht in der Machtpolitik der internationalen Beziehungen.

Schon länger zeichnet sich eine neue geopolitische Konstellation  ab. Politische Macht lässt sich damit noch schwieriger durch eine wünschbare Verrechtlichung der internationalen Beziehungen einhegen. Verrechtlichung gilt meist für Dänemark, Österreich und Deutschland, für Russland, China und die USA galt das nie. Nicht, wenn es ihre spezifischen Machtinteressen berührte. Auch diese Einsicht gehört zum neuen Realismus. Selbst wenn der Neo-Heroismus im öffentlichen Diskurs gegenwärtig die Zwischentöne zum Verstummen bringt, ist die traditionelle sozialdemokratische Kombination von Entspannung, Verflechtung und Multilateralismus nicht über Nacht zur Makulatur geworden.

Allerdings müssen diese Orientierungen nach Putins völkerrechtswidriger Aggression durch einen erhöhten Beitrag zur Verteidigungsbereitschaft Deutschlands und Europas abgestützt werden. Militärische Härte, Waffenlieferungen an die angegriffene Kriegspartei Ukraine, die Isolation Russlands sind heute notwendig, aber schon übermorgen kann dies keine nachhaltige Politik mehr sein.

Eine nach außen wehrhafte Demokratie muss ihre glaubwürdige Abschreckung mit einer Perspektive der politischen, ökonomischen und ökologischen Kooperation verbinden. Auch wenn das im Moment eines Angriffskrieges des „Regimes Putin“ nur schmerzhaft zu denken und noch weniger zu praktizieren ist, kluge Politik darf sich nicht in Wut, Empörung und Sanktionen erschöpfen. Zu groß sind die globalen Aufgaben, die sich der Weltgemeinschaft in den großen Menschheitsfragen wie der Klima- und (Ab)Rüstungspolitik schon heute stellen.

Deutschland braucht, wie ganz Europa, ein geordnetes Verhältnis zu Russland. Dazu gehört hier und jetzt an erster Stelle die Eindämmung der russischen Expansionspolitik, weil sie die eigentliche Ursache des Krieges ist. Erst wenn diese aggressive Expansion eingestellt und die Interessen der Ukraine sowie des Westens angemessen berücksichtigt sind, kann und muss eine neue Kooperation mit Russland beginnen. Denn die Isolation Russlands, ein Versinken der Nuklearmacht im ökonomischen oder gar politischen Chaos, muss verhindert werden.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Nicht die Transition zur Demokratie, sondern Hobbes' Welt eines Bürgerkrieges aller gegen alle wären das wahrscheinliche Ergebnis. Sanktionen gegen Putins Russland sind heute nötig. Die wirtschaftliche Verflechtung, nicht Abhängigkeit, und die Suche nach neuen Kooperationen können sie langfristig nicht ersetzen. Sicherheitspolitik so anzulegen, dass neben der bewaffneten Abschreckung andere Optionen eingesetzt werden, war noch stets ein Distinktionsmerkmal sozialdemokratischer gegenüber konservativer Politik. Ohne die Kombination von militärischer Bündnisstärke, Kooperation und der mühseligen Wiederaufnahme entspannungspolitischer Initiativen lässt sich schon mittelfristig keine tragfähige Sicherheitsarchitektur in Europa begründen.

Neue Weltordnung?

Putins Krieg platzte in das Ende der unipolaren Weltordnung, der Pax Americana und einen aufziehenden geopolitischen Konflikt zwischen den USA und der Volksrepublik Chinas. Es geht deshalb auch um die strategische Neuaufstellung Deutschlands und Europas in einer neuen Weltordnung. Chinas geopolitische Ansprüche sind bislang kaum berücksichtigt. Amerika wird nicht mehr die unhinterfragte Schutzmacht Europas sein. Deutschland und Europa müssen sich anders und stärker koordinieren, wenn sie nicht zum Spielball der großen Mächte werden wollen. Eine gemeinsame Außenpolitik muss einer gemeinsamen Sicherheitspolitik aber noch vorausgehen. Da sind dicke Bretter für die EU und die europäischen NATO-Staaten zu bohren.

Wer sind eigentlich die großen Mächte? Herfried Münkler zählt neben den USA, China, dem nuklearbewaffneten Russland auch Indien und ein handlungsfähiges Europa dazu. Nach unserem Dafürhalten zeigt das nicht die eigentliche geopolitische Dynamik an. Die interne Heterogenität seiner strategischer Weltsichten und der gesellschaftlich verankerte Postheroismus macht Europa nicht zu einer handlungsfähigen  "Großen Macht". Indien ist wirtschaftlich wie militärisch ebenso davon entfernt.

[Lesen Sie auch: Langer Zermürbungskrieg droht – wie kann der Westen helfen? (T+)]

Russland kann durch Krieg und Sanktionen China in die Arme getrieben werden. Was übrig bliebe, wäre die bipolare Konfrontation zweier Lager mit den USA und Europa auf der einen sowie China und Russland auf der anderen Seite. Indien irgendwo dazwischen. Der heiße Krieg der Gegenwart hätte dann den kalten Krieg der Zukunft programmiert.

So schwer es jetzt unter Putins Unrechtsherrschaft zu denken ist, Russland darf mittelfristig weder politisch noch wirtschaftlich aufgegeben werden. Da darf man doch wieder an die Aktualität des strategischen Denkens von Egon Bahr und Willy Brandt erinnern.

Es geht um einen neuen Realismus, dessen Ausgangspunkt gegenwärtig die Eindämmung Russlands ist. Ist dies erreicht, dann können auf einer wechselseitigen Macht- und Bedrohungsanalyse aufbauend die Bedingungen einer friedlichen Kooperation jenseits der militärischen konzipiert werden. Denn Aufrüstung alleine ist noch kein sicherheitspolitisches Konzept, schon gar nicht für die Zeitenwende in eine friedlichere Zukunft.

Wolfgang Merkel, Wolfgang Schroeder

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