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Das Verteidigungsministerium arbeitet an einem Szenario für einen Komplettabzug der Kräfte aus dem Land innerhalb weniger Monate.

© Timo Röhn/Imago

Angst vor der Rache der Taliban: Wie der Truppenabzug afghanische Helfer in Gefahr bringt

Der Truppenabzug aus Afghanistan gefährdet lokale Helfer. Politiker und Experten fordern mehr Schutz für die Ortskräfte der deutschen Ressorts.

Berlin - Wie hilfsbedürftig Afghanistan ist, lässt sich schon anhand weniger Zahlen erklären. Mit zwölf Milliarden US-Dollar will die Staatengemeinschaft das Land in den kommenden vier Jahren unterstützten. Afghanistan, immerhin seit rund 19 Jahren Standort eines robusten internationalen Militär- und Entwicklungseinsatzes, zählt rund elf Millionen Menschen, die von Nahrungsmittelhilfen leben. Bald könnte eine kleine, aber für die Bundesregierung brisante Gruppe Hilfsbedürftiger hinzubekommen, die sogar um ihr Leben fürchten müssen: die ehemaligen afghanischen Ortskräfte der Ministerien und deutscher Organisationen. So berichten es Menschenrechtsaktivisten und die Opposition im Bundestag.

„Der derzeit diskutierte und in Teilen schon umgesetzte Abzug von Nato-Truppen wirkt sich destabilisierend aus“, sagt Luise Amtsberg, flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Die Ortskräfte, auch jene, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, sieht sie „zunehmend im Visier von Taliban und IS“. Die Ortskräfte arbeiten für die Ministerien, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) als Dolmetscher, Fahrer oder Wachleute für die Feldlager.

Sie schufen eine Verbindung von Soldaten und Entwicklungshelfern zur afghanischen Bevölkerung, sicherten so den deutschen Einsatz. Tausende waren es im Verlauf der Jahre. „Wir haben eine Fürsorgepflicht für Menschen, die für die Bundeswehr und die Nato gearbeitet haben“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl.

Die Rückkehr der Taliban zur Macht ist gerade für Ortskräfte heikel

Nun geht es an die Abwicklung des jahrelangen Einsatzes. 12.000 Soldaten aus knapp 40 Staaten sind noch im Land, darunter rund 4500 US-Soldaten. Präsident Donald Trump will ihre Zahl bis Mitte Januar auf 2500 reduzieren. Auch die Bundeswehr trifft längst Vorkehrungen für einen möglichen Abzug ihrer 1200 Soldaten innerhalb weniger Monate. Ende April stand dafür einmal als Datum im Raum: Für diesen Termin hatten die USA den Taliban einen Rückzug aller internationalen Truppen in Aussicht gestellt, wenn vom Land am Hindukusch keine Terrorgefahr mehr ausgehe.

Doch Kritiker sorgen sich, dass mit den Taliban an der Macht die Gefahren für die Helfer wachsen. „Diese Menschen haben sich für uns entschieden und viele Jahre ihr Leben riskiert, sie werden von den Taliban als Verräter gesehen. Wir haben eine Verantwortung für die Ortskräfte“, sagt Marcus Grotian, Hauptmann der Bundeswehr und Vorsitzender des „Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte“. Mit dem Verein und Dutzenden Ehrenamtlichen hat er Hunderte ehemalige Ortskräfte in Deutschland unterstützt, half ihnen so bei der Integration. „Die betroffenen Ortskräfte müssten aus dem Land herausgeholt werden. Es droht eine Racheaktion der Taliban“, warnt Burkhardt.

Knapp 540 afghanische Ortskräfte sind noch für Ressorts der Bundesregierung tätig, wie das Bundesinnenministerium (BMI) auf Anfrage mitteilt. 489 von ihnen arbeiten für das Verteidigungsministerium, andere für das Auswärtige Amt und das BMI. Hinzu kommen die rund 1300 lokalen Helfer der GIZ, der KfW und politischer Stiftungen. Geht es nach Grotian, sollten die Bundeswehr und überhaupt deutsche Ressorts ihren Ortskräften und engsten Familienangehörigen, sofern sie einer Sicherheitsüberprüfung standhalten, die Möglichkeit geben, nach Deutschland auszureisen.

Im vergangenen Jahr brachte die Grünen-Fraktion einen Antrag in den Bundestag ein. Dem zufolge sollte für Ortskräfte, die für deutsche Institutionen arbeiten oder gearbeitet haben, ein Gruppenverfahren für ihre Aufnahme eingeführt werden. Ebenfalls soll den Familienangehörigen der visumberechtigten Ortskräfte ein Visum für die Einreise ausgestellt werden. „Der Umstand, dass die Zahl der Aufnahmezusagen trotz deutlich schlechterer Sicherheitslage gleichbleibend niedrig ist, zeigt, dass das System reformbedürftig ist“, sagt Amtsberg.

Die Helfer verlassen das Land teilweise auf eigene Faust

Die Bundesregierung hatte im Herbst 2013 beschlossen, einen Teil der Ortskräfte in Deutschland aufzunehmen. Liegt eine „individuelle Bedrohungssituation“ vor, kann eine Aufnahme nach Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes bewilligt werden. Die Ortskraft darf mit ihrer Kernfamilie einreisen. Allerdings muss dafür der Antrag positiv entschieden werden. Nur bei positivem Urteil eines Ressortverantwortlichen wird eine Gefährdungsanzeige an das Innenministerium und das Auswärtige Amt weitergeleitet. Auch Sicherheitsbehörden prüfen den Fall.

„Das bisherige Verfahren ist angesichts der Gefahrenlage und der Bedrohungen, mit denen Ortskräfte konfrontiert sind, viel zu bürokratisch, aufwendig und intransparent“, sagt Grünen-Abgeordnete Amtsberg. Es habe zur Konsequenz, dass viele Helfer auf eigene Faust aus Afghanistan fliehen.

Bis zum 9. November hatten seit Beginn des Ortskräfteverfahrens laut BMI insgesamt 2040 Menschen Gefährdungsanzeigen gestellt. Bei 1169 Kräften, rund 57 Prozent, wurde keine Gefährdung festgestellt, folglich auch keine Aufnahmezusage erteilt. Zwar wurden 2019 und im laufenden Jahr 21 Aufnahmezusagen erteilt. Doch über die Gesamtzahl der Anzeigen in diesen zwei Jahren macht das BMI keine Angaben, somit auch nicht über mehrfach gestellte Anzeigen durch eine Ortskraft – eine derartige Statistik werde nicht geführt, heißt es. Bundeswehr-Offizier Grotian vermutet eine hohe Zahl an Gefährdungsanzeigen in den vergangenen Jahren. „Aussagen von Ortskräften vor Ort lassen vermuten, dass es deutlich mehr Ausreisewillige gibt“, sagt er.

Die Grünen fordern eine leichtere Einreise für Ortskräfte

Das BMI betont, dass die Fortführung des Ortskräfteverfahrens auch bei einem möglichen Komplettabzug aller im Land engagierten Ressorts sichergestellt sei. Gefährdungsanzeigen seien „bis zu zwei Jahre nach Beendigung ihrer Anstellung“ möglich, eine Entscheidung über diese erfolge aus Deutschland heraus. Die Option der Einreise über diesen Weg bleibe also gegeben.

Die Grünen fordern, die Einreise bedrohter Ortskräfte nun zu erleichtern. Denn: Geht es um ein Visum für die Bundesrepublik, braucht es eine konsularische Abteilung. Durch die Schließung der Deutschen Botschaft in Kabul infolge des Bombenanschlags im Mai 2017 sind die Stellen für die Annahmen und Bearbeitungen der Visumsanträge nicht länger in Afghanistan, wie das BMI mitteilt. Zuständig für die Visa sind die Botschaften im indischen Neu-Delhi und im pakistanischen Islamabad, für Afghanen kaum zu erreichen.

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