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Plätzchenbacken in Khartoum. Eine sudanesische Familie vor dem Eid al-Fitr Fest im Mai, das den Ramadan beendet.

© Azraf Shazly / AFP

Internationales Literaturfestival Berlin: Am Nil, einem Nebenfluss der Spree

Der Sudan in Berlin: In seinem Reportageband „Afropäisch“ unternimmt Johny Pitts „Eine Reise durch das schwarze Europa“. Ein Vorabdruck.

Johny Pitts lebt als Fernsehmoderator, Autor und Fotograf in London. „Afropäisch“ (Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, 461 S., 26 €) erscheint am Montag im Suhrkamp Verlag. Am Samstag, den 19. September, um 18 Uhr ist John Pitts Videogast des Internationalen Berliner Literaturfestivals (literaturfestival.com). Der folgende Text stammt aus dem Kapitel "Germaika".

An einem der für meinen Aufenthalt typischen eisigen Abende in Berlin sah ich ein kleines Stück Afropa in der Dunkelheit von Friedrichshain leuchten. Das Nil war eine heilsame sudanesische Oase im Land der tausend Currywurst-Buden und Döner-Imbisse, und obwohl es nur ein kleines Lokal mit ein paar Tischen war, wurde es während meiner Zeit in Berlin zu meinem sozialen Mittelpunkt, der mir Zugang zu einer multikulturelleren Seite der Stadt verschaffte. Ich quatschte dort mit israelischen Architekten, schweizerisch-ivorischen Buchhaltern, ghanaisch-deutschen Musikern und jeweils mit dem sudanesischen Koch, der gerade Schicht hatte.

Ich fand das Nil, indem ich meiner Nase nachging. Der Duft, der aus dem Lokal strömte, war ungewöhnlich und angenehm, und ich wurde von Hishem hereingebeten, einem der zwei Männer, die in der Regel kochten und hinter der Theke servierten. Er gab mir ein kleines Stück gegrilltes Huhn mit der köstlichen goldbraunen sudanesischen Soße Aswad, die aus Erdnüssen und frischem selbstgemachten Joghurt zubereitet wird. Ich bestellte sofort einen Teller, und Hishem servierte das Gericht mit heißen Kartoffeln, einem krossen Salat und einem Glas frischem Hibiskus-Tee.

Gut für dich, Bruder!

„Eine sudanesische Spezialität“, sagte er, „keine Chemikalien oder zusätzlicher Zucker – gut für dich, Bruder.“ Alles zusammen kostete weniger als fünf Euro. Ich saß an einem beschlagenen Fenster, das die Myriaden Lichter der Großstadt in ein verschwommenes Bokeh verwandelte, und fühlte mich durch das Brutzeln und die sudanesischen Gerüche getröstet und entspannt.

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Berlin war interessant, aber intensiv gewesen. Es begrüßte einen auf eine seltsame, raue, schwer verständliche deutsche Art, bei der der finstere Blick eines Fremden manchmal der Einladung zu einem rauschenden Fest vorausging und neckende, grenzwertige Beleidigungen sich oft als Zuneigungsbeweis entpuppten. Ich holte mir eines von vielen Büchern über den Sudan aus einem Regal, das neben einer großen Karte dieses Landes stand. Um sie herum hing sudanesische Kunst an der Wand, die offensichtlich sowohl von der subsaharischen als auch von der arabischen Kultur inspiriert war.

Das Buch war ein großer Bildband aus den neunziger Jahren: „Der Nil“, und als Hishem sah, dass ich darin blätterte, und er gerade niemanden bedienen musste, setzte er sich zu mir an den Tisch und erzählte vom Sudan. Wir betrachteten eine Karte des Nils, des längsten Flusses der Erde, der durch den Sudan nach Ägypten fließt und Nord-, Ost- und Zentralafrika miteinander verbindet: Äthiopien, Eritrea, die Demokratische Republik Kongo, Kenia, Uganda, Tansania, Burundi und Ruanda. Hishem zeigte auf den Osten des Südsudans. „Dort stammt mein Vater her, meine Mutter ist aus dem Norden. Es ist wirklich schrecklich, was dort passiert ist.“

Der Sudan wurde 2011 in zwei Staaten geteilt, nachdem zwei Bürgerkriege mehr als einer halben Million Sudanesen das Leben gekostet hatten. Die Grenzen richteten sich grob nach der Religionszugehörigkeit, muslimisch im Norden und christlich im Süden. Hishem jedoch wollte mir von seinem Land erzählen, ohne die Bilder von Krieg und Hunger heraufzubeschwören, an die wir uns im Zusammenhang mit dem Sudan gewöhnt haben. Normalerweise werden der Nil und die Symbole der Macht an seinen Ufern mit Ägypten assoziiert, aber einige der ägyptischen Götter und Altäre, die die Welt in ihr kollektives Gedächtnis heruntergeladen hat, haben eine Geschichte, die weit nach Nubien und in das Innere Afrikas hineinreicht.

Sudan als Ursprungsland der Pharaonen?

Die sudanesische Kultur ist älter als die ägyptische, und einige Forscher glauben, dass der Sudan die Kultur der Pharaonen hervorgebracht hat. Obwohl beide Länder eine lange gemeinsame Geschichte haben (beide haben einander in der Vergangenheit erobert), erkennt man,wenn man auf einer Karte die Grenze zwischen den beiden Ländern sucht, dass sie wie viele Länder Afrikas durch eine absolut gerade koloniale Linie voneinander getrennt sind.

„Wir nehmen diesen Teil“, hatte irgendein britischer Lord gesagt, und daheim in London mit Lineal und Bleistift ein Stück Afrika auf der vor ihm liegenden Karte annektiert.

Er zerschnitt damit historisch gewachsene Dörfer und Gemeinschaften, die er wahrscheinlich nie besucht hatte oder besuchen würde. Hishem berichtete mir, dass die sozialen Verbindungen im Sudan wichtiger sind als die politischen Grenzen, und er erzählte stolz, dass das Land seine eigenen Pyramiden und eine ruhmreiche Geschichte hatte, die in Ost- und Zentralafrika am Nil wurzelte, Nubien und das einst machtvolle Königreich Kusch mit einschloss und die Kultur bereicherte, die die Welt heute als altägyptisch bezeichnet.

Hishem gefiel es, wie er sagte, ganz gut in Berlin, aber er hatte schreckliches Heimweh: „Also, ich bin vor acht Jahren wegen der instabilen Lage im Sudan nach Deutschland gekommen. Alles ist im Moment sehr korrupt und gefährlich dort. Die Leute verlassen das Land, weil sie entweder für sich und ihre Kinder ein besseres Leben haben wollen, oder weil sie davon träumen, so viel Geld zu verdienen, dass sie zurückkehren können, aber so läuft es nicht. Es ist schwer, hier Geld zu sparen, und selbst wenn du genug verdienst, ist die Regierung daheim immer noch so korrupt, dass du nicht weißt, welche Zukunft es dort geben könnte.“ Hishem traten die Tränen in die Augen, und ich brachte das Gespräch auf Berlin, sagte, ihm gehe es ja offensichtlich gut mit einer Arbeit, die ihm unübersehbar Spaß mache. Doch er runzelte die Stirn.

Deutschland ist kein glücklicher Ort

„Ich arbeite gern hier, und ich träume davon, eines Tages mein eigenes Lokal aufzumachen. Aber Berlin ist nicht gut für einen Menschen wie mich. Ich finde nicht, dass es rassistisch ist; ich habe hier keine besonderen Probleme in dieser Hinsicht, aber ich finde, alle haben ein schlechtes Leben hier, nicht nur die Immigranten. Deutschland ist kein glücklicher Ort. Die Leute arbeiten den ganzen Tag; sie fahren zur Arbeit und wieder nach Hause und dann schlafen sie. Alle wollen möglichst viel haben, aber das macht sie zu Sklaven, weil sie nie genug kriegen, nie aufhören können. Ich will nur genug Essen und eine nette Frau zum Tanzen und irgendwo eine Wohnung.“

Ein paar Minuten zuvor war ein Mann mit sauber geflochtenen Dreadlocks hereingekommen und hatte unser Gespräch mitgehört. Ich sah ihm an, dass er es nicht erwarten konnte, sich zu beteiligen, und dass er auf Hishem antworten wollte. Der Mann hieß Mohammed, und während Hishem vernünftig, aber relativ unpolitisch war, war Mohammed leidenschaftlich und reaktionär. Er war arbeitslos und wütend und nutzte seine Angst und seine prekäre Lage als Schwarzer in Europa für eine Art Pseudo-Empowerment.

Er sagte: „Gott segne euch, Brüder“, und dann: „Europa ist nicht gut für den schwarzen Mann. Ich will euch etwas sagen: Wir Afrikaner, wir kommen aus einem Land, in dem Überfluss herrscht. Was hier Faulheit genannt wird, ist unsere Natur, weil Gott in unserem Heimatland total für uns sorgte. Wenn wir hungrig waren, mussten wir nur aufstehen und Früchte von einem Baum pflücken, wir hatten Gold und Diamanten unter unseren Füßen, Sonne am Himmel und Eine Menge natürliche Ressourcen.

Der weiße Mann hat ein anderes Leben zu führen gelernt, weil das Wetter in Europa so schlecht und das Land so unfreundlich ist. Er musste lernen, sich zu organisieren, im Sommer hart zu arbeiten und für den Winter vorauszuplanen, musste planen, damit seine Familie die kalten Monate überleben konnte. Das ist der große Unterschied zwischen dem schwarzen und dem weißen Mann: Wir brauchten nichts, sondern bekamen alles ganz leicht von unserem Land.

Der weiße Mann hat nie genug

Doch der weiße Mann braucht immer mehr für sein Leben, weil er Angst hat, deshalb kommt er nach Afrika, um sich einen Vorrat anzulegen, und er weiß nicht, wann er aufhören muss. Das ist das System in Europa, von dem mein Freund spricht, das System, das immer hungrig ist und gefüttert werden muss, und je mehr es frisst, umso mehr will es, weil es immer Angst vor der Zukunft hat. Der weiße Mann nimmt alles, und er will, dass wir leben wie er, aber unter ihm.“ Hishem sagte: „Aber es gibt auch ein Problem mit den schwarzen Führern, nicht nur mit den weißen. Es stimmt, dass es im Sudan nicht unsere Kultur ist, das Leben mit Arbeit zu verbringen. Viele Leute interessieren sich nicht für die Universität. Sie wollen einfach nur ein einfaches Leben leben und entspannt und glücklich sein. Aber das ist der Grund, warum so ein Chaos herrscht: Niemand interessiert sich für die Regierung, wir leben einfach nur in den Tag hinein. Deshalb ist es leicht für die Mächtigen, uns auszunutzen.“

Dass Mohammed die Schwarzen hartnäckig als von Natur aus faul charakterisierte, widersprach all meinen persönlichen Erfahrungen und allem, was ich auf meiner Reise erlebt hatte. Schwarze Männer schoben Nachtschichten, um Gebäude zu bewachen, schwarze Frauen machten in den Herbergen für uns faule Reisende sauber, sie alle versuchten mühsam, ihren Job mit ihrer Arbeit als Eltern und oft auch noch einer Ausbildung zu vereinbaren, schrieben sich als Studentinnen und Studenten mittleren Alters an der Universität ein, um Abschlüsse für Berufe zu machen, die sie in ihrer Heimat schon ausgeübt hatten, aber die in Europa nicht anerkannt wurden.

Der sudanesische Besitzer des Nil, Walid Elsayed, hatte einen Abschluss in Gartenbau gemacht und gleichzeitig als dritte Sprache Deutsch gelernt. Er hatte an den Abenden gekocht und war mit einem Fahrrad mit Anhänger in Berlin herumgefahren und hatte zur Finanzierung seines Studiums Essen verkauft.

Dabei hatte er ein speziell auf den deutschen Geschmack zugeschnittenes Menü erfunden, indem er traditionelle sudanesische Gerichte mit panafrikanischen und europäischen Zutaten kombinierte. Schließlich hatte er einen ausgesprochen strategischen Marketingplan entwickelt, um das junge studentische Publikum in Friedrichshain für seinen Imbiss zu gewinnen. Dann hatte er das Lokal aufgemacht und es in den ersten Jahren von elf Uhr morgens bis Mitternacht selbst geführt.

Wenn Afrikaner Inder beschimpfen

Walter Rodney, ein Historiker aus Guyana, schrieb einmal: „Wenn ein Afrikaner einen Inder beschimpft, wiederholt er alles, was die Weißen über arbeitspflichtige indische ,Kulis’ sagen, und der Inder leiht wiederum ,Stereotypen’ bei den Weißen aus, um sie auf die Schwarzen neben ihm anzuwenden. Es ist, als ob der eine Schwarze den anderen nur mit den Augen eines Weißen sehen könnte. Und es ist höchste Zeit, dass wir uns mit unseren eigenen Augen sehen.“

Rodney sprach nicht nur über die von den Weißen verübte Gehirnwäsche, sondern auch über ihren strukturellen Rassismus. Die arbeitslosen Schwarzen, die ich in ganz Europa herumhängen sah, waren nicht von Natur aus faul, es fehlte ihnen an Chancen und an Zuversicht, und ihr Verbrechen bestand darin, dass sie sichtbar waren – ganz im Gegensatz zu dem schwarzen Personal, das den Bahnhof putzt und durch seine harte Arbeit unsichtbar geworden ist.

Als Hishem wieder Essen zubereiten musste, setzte sich Mohammed auf seinen Platz und sagte, als er mich in dem Buch über den Nil blättern sah: „In solchen Büchern wirst du die Wahrheit über Afrika nicht finden, Bruder. Du wirst nichts über die machtvolle Geschichte des sudanesischen Volkes erfahren, du wirst nur Bilder voll Tod und Armut sehen, die sie selbst geschaffen haben und nun dokumentieren, als ob sie etwas retten wollten. Aber Armut ist eine Lebenslage, keine Identität. Den wirklichen Sudan wirst du im wirklichen Leben finden, verstehst du? Das Essen, die Atmosphäre, die Macht, sie wollen, dass du an all das nicht denkst.“ „Wer will das?“, fragte ich.

Sexismus, Fanatismus, Paranoia

„Die Illuminati“, sagte er, und ich fragte mich plötzlich, ob ich es mit einem Hotep zu tun hatte, dem Mitglied einer Gruppe, die manchmal spöttisch als „Ankh-Right“ bezeichnet wird (nach dem ägyptischen Symbol „Anch“ für Leben und als Verballhornung der Alt-Right). Diese schwarzen Extremisten sind genau wie die weißen Extremisten weit überwiegend Männer und werden mit Sexismus, Fanatismus, Paranoia,Vorurteilen und Fehlinformationen in Verbindung gebracht, während sie selbst behaupten, erleuchtet zu sein.

„Hotep“ geht auf die altägyptische Wendung „in Frieden“ zurück, doch die sogenannten Hoteps sind permanent im Krieg und verweigern den Dialog mit anderen. Ein Hotep erfüllt sich den afrozentrischen Anspruch, die ägyptische Kultur für sich allein zu beanspruchen, obgleich die Kultur des alten Ägypten in Wirklichkeit eine Mischung aus vielen Kulturen war: persischen, arabischen, afrikanischen, griechischen und vielen anderen.

Den Hoteps jedoch ist das alles gleichgültig. Sie stehen als Könige auf einem wackligen Fundament zweifelhafter Behauptungen, und ihre unabhängige Position ist seltsam abhängig vomWeißsein als Gegensatz. Mit anderen Worten, sie messen den Weißen eine zu große Bedeutung zu.

Johny Pitts

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