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Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, nach einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang mit sexuellem Missbrauch.

© dpa

Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum Köln: Alle deutschen Bischöfe sollten ihren Rücktritt anbieten

Die Untersuchung zeigt Systematik und Vertuschung. Die katholische Kirche braucht einen personellen Neuanfang. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Das Gutachten ist da, das Beben beginnt, die katholische Kirche wird nicht so schnell zur Ruhe kommen. Sie wird eher zur Ruhe gebettet werden, wenn man hochrechnet, was alles im Erzbistum Köln, diesem einflussreichen, in der Welt beachteten und vormals geachteten, passiert ist.

Die Untersuchung des Strafrechtlers Björn Gercke zu Missbrauchsfällen durch Geistliche geht bis ins Jahr 1975 zurück und führt 243 Beschuldigte und 314 Betroffene sexualisierter Gewalt auf, überwiegend männlich und unter 14Jahren. Was das mit denen für ihr Leben gemacht hat – Herr im Himmel, die Opfer leiden bis heute. Und die wenigsten haben eine Entschuldigung erfahren.

Der Umgang dieses Bistums mit Missbrauch zeigt auf, womit es die gesamte deutsche katholische Bischofskonferenz zu tun hat. Und wahrscheinlich nicht nur diese. Systematisch kann man den Missbrauch nennen; und auch die Vertuschung, die Mauschelei wird anderswo nicht anders gewesen sein.

Wann endlich lässt sich die Kirche auf die ganze Wahrheit ein, öffnet alle ihre Archive und reißt die Mauern des Beschweigens, des Verschweigens ein? Über die Verliese des Vatikan schrieb einst André Gide – heute muss über die Herzen der Geistlichen als Verliese geschrieben werden, denn was geschehen ist in den vergangenen Jahrzehnten, ist so herzlos, so seelenlos. Seelsorger klingt da wie ein obszönes Wort.

Das System Meisner wird verurteilt

Köln als Beispiel: Einen Einzelnen trifft laut Gutachten ein Drittel der aus den zudem unvollständigen Akten festgestellten Pflichtverletzungen, 24 im Zusammenhang mit Missbrauch. Es sind Verstöße gegen die Aufklärungs- und Meldepflicht, gegen die Sanktionierungspflicht, die Verhinderungspflicht und gegen die Opferfürsorge. Monströs. Wer ist dieser eine? Kardinal Joachim Meisner, in Berlin als ehemaliger Oberhirte wohlbekannt – und der ist tot. Ein Narr, der Böses dabei denkt?

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Der gegenwärtige Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, auch er in Berlin gut bekannt, selbst mächtig unter Druck, stark in der Kritik, hat reagiert. Zwei amtierende Würdenträger sind suspendiert. Sie haben sich ebenfalls Pflichtverletzungen zuschulden kommen lassen. Der eine, Dominikus Schwaderlapp, ist heute Weihbischof unter Woelki – unter Meisner war er Generalvikar. Richtig so, recht so. Bleibt allerdings die Frage, was Meisners Sekretär wusste. Und der hieß: Woelki.

Belastet wird der im Ganzen nicht, entlastet in einem schwierigeren Fall. Gutachter Gercke hatte sich ausdrücklich darauf bezogen und deutlich gemacht, dass er sich weigere, Woelki „zum Schafott“ zu führen.

Kardinal Woelki wird sich selbst prüfen müssen

Darum geht es aber auch nicht. Sondern darum, dass er, Woelki, sich selbst wird prüfen müssen: Hätte er etwas wissen können über „Brüder im Nebel“, hätte er handeln müssen? Als Christenmensch ist Gewissenerforschung Pflicht. Eine Pflichtverletzung kann auch hier Folgen haben.

Es geht nicht – sagen wir vorsichtiger: noch nicht – um Strafvereitelung im strafrechtlichen Sinn. Aber es geht um Konsequenzen für Kleriker aus den Erkenntnissen des Gutachtens, und zwar weit über Köln hinaus, von Hamburg über Trier und Limburg und Essen und Münster … bis nach München.

Ohne Ansehen der Person und ihrer Funktion. So viel ist passiert, das niemals hätte passieren dürfen, getan von denen, die in Gottes Namen für die Mühseligen und Beladenen da zu sein vorgeben. „Beschämt“ sei er, sagt Woelki. Seine Glaubens- und Amtsbrüder müssten sich schämen, wenn sie jetzt nicht alle, wohlgemerkt alle, Aufklärung suchen würden.

Der Kölner Skandal als Fanal: Das Gutachten – hoffentlich auch das andere, das bisher verschlossene, das auch der Staatsanwaltschaft vorliegt – geht jetzt zum Vatikan. Der Papst wollte in Fällen des Missbrauchs durchgreifen. Nun ist er gefordert. Es ist soweit: Franziskus in der Bewährungsprobe. Nur der Papst kann Diözesanbischöfe ablösen. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, früher in Köln Personalchef und Generalvikar, wird wohl abgelöst; er bietet seinen Rücktritt auch an.

Besser wäre, wenn sich der gesamte Episkopat bereit fände, Rom seine Demission anzubieten: um einen kompletten Neuanfang zu ermöglichen und den Gottgläubigen die Chance zu geben, an die Wandlungsfähigkeit ihrer Kirche zu glauben. Daran, dass sie sich nicht überlebt hat, sondern, wie es in der Bibel steht, die Zeichen der Zeit erkennt.

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