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Es gebe trotz aller Vorwürfe keine Beweise gegen Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger, sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

© dpa/Sven Hoppe

Update

„Entlassung nicht verhältnismäßig“: Söder lässt Aiwanger trotz Flugblatt-Affäre im Amt

Bayerns Ministerpräsident hält am Freie-Wähler-Chef fest. Innenministerin Faeser bezeichnet dies als Schaden für das Ansehen Deutschlands. Scharfe Kritik kommt auch vom Vizekanzler.

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Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will seinen Stellvertreter Hubert Aiwanger (Freie Wähler) trotz zahlreicher Vorwürfe in der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus Schulzeiten nicht entlassen. Bei einer Pressekonferenz in München sagte Söder: „Es ging um schwere Vorwürfe.“

Es gebe aber keine Beweise gegen den Chef der Freien Wähler. „In der Gesamtabwägung (...) wäre eine Entlassung aus dem Amt nicht verhältnismäßig.“ Söders Entscheidung löste in Bayern und in der Bundespolitik scharfe Kritik und Empörung aus.

Er habe in den vergangenen Tagen abgewogen und nicht nur aufgrund von Medienberichten entscheiden wollen, sagte Söder. „Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht“, sagte er. Er wisse, dass seine Entscheidung nicht allen gefallen werde. Wichtig sei ihm gewesen, dass es keine Vorverurteilung von Aiwanger geben durfte.

Es war eine unschöne Woche, das hat Bayern geschadet.

Markus Söder, Bayerns Ministerpräsident (CSU)

Zudem habe es am Samstagabend ein langes Gespräch mit dem Freie-Wähler-Chef gegeben, der Reue gezeigt und mehrfach versichert habe, dass das Flugblatt nicht von ihm sei. Auch der Koalitionsausschuss habe getagt.

Söder kritisierte Aiwangers Krisenmanagement in den vergangenen Tagen. Dieses sei „nicht sehr glücklich“ gewesen. Aiwanger hätte die Vorwürfe früher, entschlossener und umfassender aufklären müssen, so Söder. Aiwangers Entschuldigung sei „spät“, aber „nicht zu spät“ gekommen. Die Entschuldigung sei richtig und notwendig gewesen.

Von Aiwanger forderte Söder nun, alles daranzusetzen, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen und etwa Gespräche mit jüdischen Gemeinden zu suchen. „Es gibt keinen Platz für Rassismus und Antisemitismus in Bayern“, betonte Söder. „Einfach Schwamm drüber und weiter so wäre auch der falsche Weg.“ Es sei nicht entscheidend, was man mit 16 sage, sondern wie man mit 52 Jahren damit umgehe. „Wer ernsthaft bereut, kann auch leichter Verzeihung finden.“ 

„Es war eine unschöne Woche, das hat Bayern geschadet“, sagte Söder. „Ich bedauere die Angelegenheit. Aber aus meiner Sicht ist die Sache abgeschlossen.“

Der Freie-Wähler-Vorsitzende hatte zuvor Söders Katalog mit 25 Fragen schriftlich beantwortet. Fragen und Antworten wurden von der Bayerischen Staatskanzlei nach der Pressekonferenz veröffentlicht. Die Antworten seien nicht alle befriedigend, sagte Söder. Es sei viel Bekanntes und wenig Neues dabei, auch könne sich Aiwanger an Vieles nicht erinnern. Zu seinen Gunsten müsse man auslegen, dass er sich erneut vom Flugblatt distanziert habe. 

Söder begründete seine Entscheidung mit fünf Punkten. Nach Bewertung „aller vorliegenden Fakten“ stelle es sich für ihn am Ende so dar:

  • „Erstens: Er hat in seiner Jugend wohl schwere Fehler gemacht, das auch zugestanden.“
  • „Er hat sich dafür zweitens entschuldigt, davon distanziert und auch Reue gezeigt.“
  • „Drittens: Ein Beweis jedoch, dass er das Flugblatt verfasst oder verbreitet hat, gibt es bis heute nicht, dagegen steht seine ganz klare Erklärung, dass er es nicht war.
  • „Viertens: Seit dem Vorfall von damals gibt es nichts Vergleichbares.“
  • „Fünftens: Das Ganze ist in der Tat 35 Jahre her. Kaum einer von uns ist heute noch so, wie er mit 16 war.“

Söder sagte weiter: „Wir werden in Bayern die bürgerliche Koalition fortsetzen können.“ Der CSU-Chef betonte: „Es wird definitiv in Bayern kein Schwarz-Grün geben.“ Söder sagte zudem: „Und alle Angebote der Opposition, die jetzt so gemacht werden, laufen ins Leere.“ Am 8. Oktober wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt. CSU und Freie Wähler hatten bisher stets erklärt, ihre Koalition nach der Wahl fortsetzen zu wollen.

Aiwanger spricht von gescheiterter Kampagne

Aiwanger bezeichnete am Sonntagvormittag die Vorwürfe im Zuge der Flugblatt-Affäre als gescheiterte politische Kampagne gegen sich. „Das war ein schmutziges Machwerk“, sagte Aiwanger bei einem Wahlkampfauftritt in einem Bierzelt in Grasbrunn (Landkreis München).

„Die Freien Wähler sollten geschwächt werden.“ Doch die Partei sei durch die Vorwürfe „gestärkt worden“, sagte Aiwanger. „Wir haben ein sauberes Gewissen.“ Seine Gegner seien mit ihrer „Schmutzkampagne gescheitert“. Von dieser „Kampagne“ würden sich später noch einige Beteiligte distanzieren müssen, sagte Aiwanger.

Herr Söder hat nicht aus Haltung und Verantwortung entschieden, sondern aus schlichtem Machtkalkül.

Nancy Faeser, Bundesinnenministerin (SPD)

Aiwanger hatte bereits vergangenen Samstag zurückgewiesen, das antisemitische Flugblatt geschrieben zu haben, über das die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet hatte. Gleichzeitig räumte er ein, es seien „ein oder wenige Exemplare“ in seiner Schultasche gefunden worden.

Kurz darauf sagte sein älterer Bruder, der Verfasser zu sein. Gegen Aiwanger selbst wurden im Laufe der Woche weitere Vorwürfe laut. Am Donnerstagnachmittag entschuldigte er sich.

Der Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, trat am Sonntag im bayerischen Wahlkampf auf.
Der Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, trat am Sonntag im bayerischen Wahlkampf auf.

© AFP/Tobias Schwarz

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bezeichnete die Entscheidung Söders als Schaden für das Ansehen Deutschlands. „Herr Söder hat nicht aus Haltung und Verantwortung entschieden, sondern aus schlichtem Machtkalkül“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Der Umgang mit Antisemitismus darf aber keine taktische Frage sein.“

Faeser fügte hinzu: „Herr Aiwanger hat sich weder überzeugend entschuldigt noch die Vorwürfe überzeugend ausräumen können. Stattdessen erklärt er sich auf unsägliche Weise selbst zum Opfer – und denkt dabei keine Sekunde an diejenigen, die noch heute massiv unter Judenfeindlichkeit leiden. So verschieben sich Grenzen, die nicht verschoben werden dürfen.“ Sie betonte: „Dass Herr Söder dies zulässt, schadet dem Ansehen unseres Landes.“

Vizekanzler Robert Habeck kritisierte Söders Entscheidung ebenfalls scharf. „Sich als Jugendlicher möglicherweise zu verlaufen, ist das eine, sich als verantwortlicher Politiker zum Opfer zu machen und der Inszenierung wegen an den demokratischen Grundfesten zu rütteln, ist das andere“, sagte der Grünen-Politiker. „Da ist eine Grenze überschritten.“

Es geht hier nicht um Jugendsünden seines Koalitionspartners, sondern am Ende um den Grundkonsens dieser Republik.

Robert Habeck, Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister (Grüne)

Vor diesem Hintergrund sei die Entscheidung Söders „leider keine gute“, erklärte Habeck. „Es geht hier nicht um Jugendsünden seines Koalitionspartners, sondern am Ende um den Grundkonsens dieser Republik, den jede Regierung in Bund und Ländern voll und ganz schützen muss.“

Bei allen Unterschieden in der Sache habe sich die CSU immer als eine staatstragende Partei der Mitte verstanden, die den Grundkonsens dieser Republik wahre, so Habeck. „Zu ihm gehört, dass die Erinnerung an den Holocaust zentral ist und wir sie nicht relativieren dürfen. Genau das aber hat Herr Aiwanger getan und sich als Opfer inszeniert.“

Für Grünen-Chef Nouripour ist Söders Entscheidung unanständig

Der Grünen-Co-Vorsitzende Omid Nouripour sagte dem „Spiegel“: „Es geht nicht um den 17-jährigen Hubert, sondern um den 52-jährigen Aiwanger und seinen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Dieser Umgang wird nun von Söder belohnt, weil ihm Taktik wichtiger als Haltung ist. Das ist unanständig und schlecht für Bayern wie schlecht für Deutschland.“

Auch die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, krisierte Söders Entscheidung scharf. „Dass Markus Söder Hubert Aiwanger im Amt lässt, ist einfach unglaublich!“, sagte sie dem RND. „Wenn man sich überlegt, dass Söder sonst wegen jeder Kleinigkeit Rücktritte fordert, aber bei übelstem Antisemitismus einfach einen Strich drunter zieht, ist das eine unerträgliche Verharmlosung aus billigem machtpolitischem Kalkül.

Trauriger Tag für das Ansehen von Bayern in Deutschland und der Welt.

Florian von Brunn, Landesvorsitzender der SPD in Bayern

Mihalic fügte hinzu: „Aiwanger hat sich nie klar distanziert. Dass dies nun ohne Konsequenzen bleibt, ist ein weiterer Stein, der aus der Brandmauer nach rechts fällt.“

Bayerns SPD-Chef Florian von Brunn bezeichnete den Verbleib von Aiwanger im Amt als „traurigen Tag für das Ansehen von Bayern in Deutschland und der Welt“. „Dass die CSU unter Markus Söder einen aktiven Rechtspopulisten und früher auch rechtsradikal tätigen Aktivisten als Stellvertreter in der Regierung akzeptiert, ist ein negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland“, teilte der SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahl mit.

Die Bedingungen von Söder seien klar gewesen, sagte Florian von Brunn: „Es muss ein Einzelfall sein. Die letzten Tage zeigen jedoch keinen Einzel-, sondern einen Regelfall.“

CDU-Politiker Radtke kritisiert Antworten Aiwangers

Die Entschuldigungen von Herrn Aiwanger seien zu spät, zu unvollständig und auch zu uneinsichtig gewesen. Die Angriffe und Vorwürfe gegen Medien seien unvereinbar mit der Pressefreiheit und mit der bayerischen Verfassung. „So jemand ist kein Stellvertreter, sondern eine Schande Bayerns“, sagte von Brunn.

Der CDU-Europa-Abgeordnete Dennis Radtke sagte dem Spiegel: „Die Berichterstattung wird weiter und weiter gehen. Die Antworten auf die 25 Fragen sind eine Mischung aus Belanglosigkeit und Erinnerungslücke, wo eigentlich Reue und Einsicht gefordert wären. Aiwangers heutiges Statement ist Trumpismus. Er stilisiert die Veröffentlichung zum eigentlichen Problem und sich selbst zum Opfer. Für die politische Kultur ist die ganze Affäre ein Desaster, das jeden Tag größer wird.

Freie Wähler stehen hinter Aiwanger

Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien Wähler, Engin Eroglu, lobte die Entscheidung Söders. „Diejenigen, die mit ihrer Kampagne das Ansehen der Freien Wähler im Misskredit bringen wollten, haben ihr Ziel erreicht – leider. Dennoch gehe ich davon aus, dass die Angelegenheit der sogenannten Flugblattaffäre mit der Entscheidung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder abgeschlossen ist“, sagte Eroglu der „Welt“. „Es gibt keine Beweise gegen Hubert Aiwanger, er ist unschuldig, die Entscheidung Söders daher folgerichtig.“

Antisemitismusbeauftragter empfiehlt Aiwanger Besuch in Dachau

Er hoffe, dass Medien und die Menschen im Land daraus lernten und bei künftigen Kampagnen dieser Art weniger schnell eine Vorverurteilung treffen, so Eroglu weiter. „Beim Krisenmanagement in der Politik ist es wie im Fußball: Sind 80.000 im Stadion, gibt es 80.000 Experten. Ich hätte eine andere Krisenstrategie als Hubert Aiwanger gewählt, aber das ist keine Wertung dazu, wie er gehandelt hat.“

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, legte Aiwanger einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau nahet. Es liege nun Aiwanger, „endlich angemessen mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen umzugehen“, sagte Klein dem RND. Der dem Freistaat Bayern in der Angelegenheit entstandene Schaden sei im Übrigen nicht durch die Berichterstattung über das antisemitische Flugblatt entstanden, sondern vor allem durch Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen, fügte Klein hinzu.

„Es wäre jetzt ein gutes Zeichen, wenn er nicht nur das Gespräch mit den jüdischen Gemeinden, sondern auch mit den Gedenkstätten in Bayern sucht und deren wichtige Arbeit stärkt, etwa durch einen Besuch in Dachau. Damit käme er seiner Vorbildfunktion als verantwortlicher Politiker nach.“ (mit dpa)

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