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Recht erlesen. Eine Mini-Ausgabe des Grundgesetzes vor dem Bundesadler im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts.

© Uli Deck/dpa

70 Jahre Bundesverfassungsgericht: Die Macht, die aus dem Text kommt

Das große Vertrauen in das Gericht und dessen Einfluss sind das Ergebnis einer schwierigen Balance. Sie gelingt nur, wenn die Politik mithilft. Eine Analyse.

Während sich Regierung und Parlament in wenigen Wochen neu und womöglich mit überraschendem Ausgang sortieren, blickt ein anderer Teil der Staatsgewalt auf eine Phase beeindruckender Beständigkeit zurück. An diesem 9. September vor 70 Jahren fasste das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe seinen ersten Beschluss, es ging um die Länderfusion zum Südweststaat Baden-Württemberg. Innerhalb eines reifen Menschenalters ist aus dem Experiment mit wenigen internationalen Vorbildern eine mindestens europaweit anerkannte Institution geworden, die auf Bundesebene immer wieder als Beleg für außergewöhnliches Staatsvertrauen herangezogen wird. Wenn Karlsruhe spricht, haben Kanzlerinnen, Bundes- und Bundestagspräsidenten und sogar andere Bundesgerichte zu schweigen. Sie müssen sich fügen. Millionen gefällt das.

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Man kann diesen Zuspruch zwiespältig finden. Es steckt womöglich ein Ressentiment gegen ein als schwatzhaft empfundenes parlamentarisches System dahinter; eine unbestimmte Sehnsucht nach Autorität, die in einer Demokratie schlecht bedient werden kann. Nun ist es aber so, dass die sechzehn Richterinnen und Richter in den zwei Senaten in jenen Fällen, die sie zur Entscheidung annehmen, ihre Urteile und Beschlüsse ausführlich begründen. Entstanden ist damit ein gewaltiges Textfundament, auf dem der politische Prozess voranschreiten und notfalls auch blockiert werden kann. Dann nämlich, wenn er den gesetzten Verfassungsrahmen verlassen hat.

Ein Katechismus gelebter Demokratie

Das wirkt, je nach Ergebnis und politischem Vorverständnis, mal beliebig und mal revolutionär, mal konservativ oder gar feige. Immer aber lassen sich die Denkweise und Kriterien der gefunden Entscheidung diskutieren, nachvollziehen, prüfen. Wer sich darauf einlässt, kann sehen, dass hier wenig neu erfunden und vieles fortgeschrieben wird. Wenn man so möchte: Ein Katechismus gelebter Demokratie.

Den einen gibt er Orientierung, andere fürchten einen Übergriff. Viel beachtete Beispiele waren zuletzt die Entscheidung zur Sterbehilfe und die Konfrontation mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem die Richter vorwarfen, er unterlasse eine angemessene Kontrolle der EU-Zentralbank.

Bei der Sterbehilfe fühlte sich das Parlament vor den Kopf gestoßen, weil es dessen Regelung als überwiegend ethische Angelegenheit betrachtete und damit das Verbot ihrer geschäftsmäßigen Ausführung gerechtfertigt hat. Das war sie aber nicht. Für sich selbst den Tod zu wählen, ist die finale Ausübung eines Grundrechts. Man mag dies für sich ablehnen, kann es aber anderen schlecht bestreiten. Das hatte die Politik nicht hinreichend bedacht.

Das Gericht ist nicht befugt, den Staat aufzulösen

Ähnlich der Streit um das EU-Recht. Trotz Europäisierung und einem Grundgesetz, das sich ihr ausdrücklich öffnet, hat das Gericht nicht die Befugnis, die verfassungsmäßige Staatlichkeit der Bundesrepublik zugunsten eines anderen Bündnisses aufzulösen. Das wiederum kann nur die Politik. Es ist deshalb richtig, dass man sich in Karlsruhe eine Art letztes Eingriffsrecht in EU-Angelegenheiten vorbehalten hat, die die nationale Souveränität betreffen; ob und wann man es ausübt, ist eine andere Frage. Im Streit um die Europäische Zentralbank hatte sich der Knall zu lange angekündigt, um davon überrascht zu sein.

In diesen beiden wie überhaupt in vielen Fällen erweist sich Karlsruhe als Vollstrecker eines politischen Minderheitenwillens. Was nach antidemokratischer Sünde klingt, ist das wesentliche Merkmal des Gerichts: Es schützt vor der Mehrheit, wenn es ausnahmsweise gute und insbesondere verfassungsmäßig ableitbare Gründe gibt, ihr zu widersprechen.

Es ist nicht im Ansatz zu erkennen, dass das Gericht hier in all den Jahren die Balance verloren hätte; weder winkt es Regierungsentscheidungen durch noch lässt es sich von einer unterlegenen Opposition instrumentalisieren. Diese Ausgewogenheit hat seine Autorität gesichert. Die besten Entscheidungen sind oft die, an denen alle etwas auszusetzen haben.

Politisierung kommt mit dem Proporz

Ob es so bleibt? Viel dürfte davon abhängen, ob die erste und die zweite Staatsgewalt mit der dritten weiter so respektvoll umgehen, wie sie es in der Vergangenheit überwiegend getan haben. Bei Richter-Personalentscheidungen zählt bisher ein wesentlich von Union und SPD getragener Konsens, nicht der Parteienproporz; während die einen darauf achten, einen ihren politischen Ansichten genehmen Kandidaten vorzuschlagen, wachen die anderen über dessen formale Qualität. Der Zwang zur Einigung zwingt zur Auswahl nach Eignung. Mit veränderten Mehrheitsverhältnissen im Bundestag kann sich das ändern. Dann wird es streitig und jeder bringt „seinen“ Kandidaten durch, im Zweifel einen Bannerträger der Partei. Die Folge wäre eine stärkere Politisierung des Gerichts, die wiederum auf die Akzeptanz seiner Urteile durchschlagen könnte.

Entscheidend wird auch sein, wie vom Recht geredet wird, nicht zuletzt in den Medien. Gepflegt wird das Klischee von Bürokratie und den „Fesseln“, die es einer handlungsbereiten Politik angeblich anlegt. Ein Ausdruck davon ist etwa die Skepsis gegenüber dem Klimabeschluss vom März, der Umweltbelastungen durch Emissionen als Frage der Freiheitsrechte deutet.

Dabei bietet die Verrechtlichung eines politischen Sachverhalts regelmäßig weit mehr Chancen als dass sie einengt. Sie zwingt nicht in ein bestimmtes Ergebnis, sondern eröffnet einen Dialog unter erneuerten Bedingungen und mit neuen Perspektiven. Den muss man freilich annehmen. Nur dann kann sich die Fantasie entfalten, die zur Lösung von Problemen und Konflikten nötig ist. Verfassungsrichter haben einiges zu entscheiden, aber die Zukunft bestimmen sie nicht.

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