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25 Jahre Tschernobyl: Die Erblast der Ukraine

Nach der Katastrophe von Tschernobyl wuchs die Anti-Akw-Bewegung in Deutschland. Im Land des GAU selbst glaubt bis heute noch kaum jemand an alternative Energien.

Berlin - Am 1. Mai 1986 schien fast überall in Deutschland die Sonne. Die Menschen waren mit ihren Kindern draußen und genossen den Frühling. Manche, vor allem in Süddeutschland, wurden vom Gewitterregen erwischt. Aber sie machten sich nichts draus – noch nicht. Denn erst am 2. Mai wurde vielen klar, dass die radioaktive Wolke aus Tschernobyl just an diesem Maifeiertag direkt über Deutschland stand. Es gab keine Warnung der Behörden. Wie auch. Es gab in Deutschland damals kein Messnetz, um Radioaktivität zu erfassen. Doch dass diese Warnung nicht kam, hat vor allem Mütter erbittert. Der Zorn sammelte sich in unzähligen Mütterinitiativen gegen Atomkraft, die in den folgenden Wochen im ganzen Land gegründet wurden. Monatelang gab es immer wieder riesige Demonstrationen gegen die Atomkraft. In Brokdorf, wo gerade ein Meiler gebaut wurde, und in Wackersdorf, wo eine Wiederaufarbeitungsanlage geplant war, kam es zu bürgerkriegsartigen Szenen.

Bis die Regierung von Helmut Kohl (CDU) sechs Wochen nach der Katastrophe beschlossen hatte, ein Umweltministerium zu bilden, war die Öffentlichkeit längst verloren. Dass sich das inzwischen geändert hat, ließ sich in den Wochen nach dem Beginn der Atomkatastrophe von Fukushima beobachten. Denn inzwischen gibt es ein feinmaschiges flächendeckendes Messnetz, dessen Werte mit geringer Zeitverzögerung im Internet abgerufen werden können. Das ebenfalls nach der Katastrophe gegründete Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) betreibt es. Beim BfS standen 25 Jahre später in den Wochen nach der Katastrophe in Fukushima die Telefone nicht mehr still. Bis zu 100 Anrufer pro Stunde wollten in den ersten zwei Wochen wissen, was in Japan passiert war, ob eine Reise nach Asien gefährlich sei und ob sie weiter Sushi essen können. Im Frühjahr 1986 dagegen gab es außer dem Öko-Institut Freiburg niemanden, der hätte gefragt werden können – jedenfalls niemanden, dem noch irgendjemand etwas geglaubt hätte.

Zumindest diese Erfahrung war in der Ukraine ähnlich. Dort ist der Vertrauensverlust in staatliche Autoritäten, wenn es darum geht, Informationen über einen Atomunfall zu bekommen, bis heute nicht überwunden. Trotz aller Beschwichtigungen der Regierung des vor einem Jahr gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch glaubt mehr als die Hälfte der Ukrainer, dass von der Atomkatastrophe in Fukushima die eigene Gesundheit negativ beeinflusst werden könnte. Drei Viertel fürchten sich vor einer neuen Havarie in der Ukraine, die sie durchaus für möglich halten. Und immerhin ein Drittel der in einer Umfrage vor wenigen Wochen Befragten wünscht sich eine schnelle Erschließung erneuerbarer Energien. Nico Lange, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew, zitiert die Umfrage in seinem Beitrag für einen Sammelband der Stiftung über die weltweiten Reaktionen auf die Katastrophe in Fukushima.

Für die Bewohner der verstrahlten Gebiete in der Ukraine ist die Katastrophe von 1986 noch lange nicht vorbei. Im März hat Greenpeace bei der Messung von Lebensmitteln, vor allem Milch, getrockneten Pilzen und Beeren, herausgefunden, dass diese Lebensmittel bis heute stark mit Cäsium-137 belastet sind. In einer Region mehr als 100 Kilometer von Tschernobyl entfernt, Rokytne, lagen alle diese Lebensmittel deutlich über den zulässigen Grenzwerten für Kinder, zum Teil aber auch für Erwachsene. Zwar hat auch die Ukraine 1991 großzügige Tschernobyl-Gesetze beschlossen, die eine Unterstützung der Menschen in den kontaminierten Gebieten gewährleisten sollten. Doch Ivan Vlasik, Ortsvorsteher in einem dieser Dörfer, kann bis ins Detail berichten, wie diese Gesetze durch Verordnungen bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen worden sind. Da die Ukraine von der Finanzkrise der Jahre 2008/09 besonders hart getroffen wurde und bis jetzt noch nicht aus dem wirtschaftlichen Tal gekommen ist, sind die Sozialprogramme längst keine Hilfe mehr. Vlasik berichtet, dass der monatliche Essenszuschuss, der es den Menschen ermöglichen soll, „saubere“, also nichtverstrahlte Lebensmittel zu kaufen, von 400 Griwna (etwa 35 Euro) inzwischen auf zwei Griwna (weniger als 20 Cents) geschrumpft ist. „Also essen die Leute, was sie sich leisten können“, sagt der Arzt Igor Bogdanchyk resigniert. Dazu komme, dass in diesen Dörfern besonders konservative Angehörige einer christlichen Sekte lebten. Die Frauen hätten fünf bis zehn Kinder – und könnten sich auch in der Schwangerschaft keine unverstrahlte Nahrung leisten. „Unsere Kinder sind alle krank“, sagt Bogdanchyk.

Vor dem Umweltausschuss des Bundestags hat die Botschafterin der Ukraine in Deutschland, Natalia Zarudna, gesagt: „Die Ukraine hat die Last von Tschernobyl geerbt.“ Rund zwölf Milliarden Dollar habe das Land seit der Unabhängigkeit schon für die Bewältigung der Katastrophe aufbringen müssen, berichtete sie. Dennoch glaubt Nico Lange nicht, dass es die „Last von Tschernobyl“ ist, die es der Ukraine so schwer macht, sich zu modernisieren. Das aus seiner Sicht größte Entwicklungshemmnis für die Ukraine ist die „enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft“. Der zweite Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, war vorher Chef des größten Rüstungskonzerns – und auch während seiner Präsidentschaft weiter wirtschaftlich aktiv. Das gilt ebenso für Viktor Juschtschenko, den Präsidenten der orangenen Revolution, und erst recht für seine Premierministerin Julia Timoschenko, die als Mitglied der Oligarchie Politikerin wurde. Auch der amtierende Präsident pflegt engste Kontakte mit den Oligarchen im Osten des Landes. 300 der 450 Parlamentsabgeordneten sollen Dollar-Millionäre sein. Ob sie Politiker geworden sind, um ihre Monopole zu sichern oder doch eher, um Immunität vor Strafverfolgung zu erlangen, lässt sich bei den meisten nicht eindeutig feststellen. Nico Lange sieht in dieser engen Verbindung das größte Korruptionsrisiko. Und in Sachen Korruption liegt die Ukraine nach Einschätzung von Transparency International ziemlich weit hinten auf Platz 134 hinter Togo und Sierra Leone.

Von dieser Ausgangsbasis aus hat es Tobias Münchmeyer von Greenpeace schwer, für eine Energiewende in der Ukraine zu werben. 2010 hat die Ukraine 51 Prozent des Stroms in 15 Atomkraftwerken an vier Standorten produziert. 34 Prozent wurden in Kohlekraftwerken erzeugt. Wasserkraft und Gas fielen mit acht beziehungsweise sieben Prozent kaum ins Gewicht. Doch zumindest hat die Ukraine vor zwei Jahren ein Fördergesetz verabschiedet, das nach dem Vorbild des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes funktioniert. Nach Angaben von Johann Harrer von der Firma Active-Solar haben 2010 allerdings gerade einmal 78 Firmen diesen Einspeisetarif genutzt. Seine Firma war eine davon. Auf der Ferienhalbinsel Krim hat das Unternehmen eine Solaranlage mit einer Leistung von 7,5 Megawatt errichtet. „Das Ziel ist, den Strombedarf in der Tourismussaison im Sommer solar zu decken“, berichtet er. Harrer sieht in der Ukraine große Potenziale für erneuerbare Energien. Das größte für Erdwärme, aber auch Wind- und Solarstrom könnten einen beträchtlichen Beitrag zur Energieversorgung in der Ukraine leisten, argumentiert er. Zudem gibt es in der Ukraine, dem Land mit der zweitgrößten Fläche Europas, „Landstriche, die völlig menschenleer sind“, sagt Nico Lange. Mehr als 70 Prozent der gut 46 Millionen Ukrainer lebten in Städten.

Das Land hat also ein großes Potenzial für Biomasse. Dazu kommt, dass die Ukraine riesige Möglichkeiten zum Energiesparen hat. Die Ukrainer verbrauchen pro Kopf etwa dreimal so viel Energie wie die Durchschnittseuropäer. Aber sie glauben nicht an erneuerbare Energien. Michail Umanez, der früher das Atomkraftwerk Tschernobyl geleitet hat, sieht das Land schon in Stromarmut versinken. Doch Tobias Münchmeyer rechnet dem ungläubigen Umanez vor, dass in Deutschland schon mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wird, als in den ukrainischen Atomkraftwerken. Michail Umanez lächelt und schüttelt den Kopf.

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