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Binnenvertriebene Frauen aus den nördlichen Provinzen, werden in einem öffentlichen Park in Kabul medizinisch versorgt.

© dpa/ Rahmat Gul

18 Millionen Menschen brauchen Unterstützung: Wie Hilfsorganisationen in Afghanistan weiterarbeiten wollen

Die Rückkehr der Taliban stellt die humanitäre Hilfe in Afghanistan vor Probleme. Für die Arbeit im Frauenbereich könnte sie gravierend sein.

Stefan Recker wäre gerne geblieben. Die Rückkehr der Taliban an die Macht sollte ihn nicht hindern. Rund 15 Jahre lebte er mit Unterbrechungen in Afghanistan, ist Leiter des Büros von Caritas International in Kabul. Sein Arbeitgeber beorderte ihn schließlich zurück nach Deutschland. Am Dienstag reiste er über den militärischen Teil des Flughafens aus, wie so viele internationale Kräfte der Hilfsorganisationen im Land. 

„Als Ausländer exponiere ich das Büro viel stärker. Das bringt automatisch auch weitere Menschen in Gefahr“, sagt Recker im Gespräch mit dem Tagesspiegel. 27 Mitarbeiter hat Caritas International in Afghanistan, 23 in Kabul, vier im Hochland. Es sind auch Frauen im Team. „Unsere afghanischen Mitarbeiter haben Angst“, sagt Recker. Nun arbeite man daran, für ihre Sicherheit zu sorgen.   

Während die Bundeswehr und das Militär anderer Staaten weiter Menschen außer Landes fliegen, stellt sich längst die Frage, welche Folgen die Rückkehr der Taliban für die humanitäre Situation der verbliebenen Afghanen haben wird. Mehr als 18 Millionen Menschen sollen Hunger leiden und rund die Hälfte der Bevölkerung auf humanitäre Unterstützung angewiesen sein. Ob internationale Hilfsorganisationen im Land verbleiben und ihre Arbeit unverändert fortsetzen, wirkt sich rasch auf das Leid der Menschen aus.  

„Die humanitäre Krise in Afghanistan verschärft sich rapide“

Das wissen gerade die Organisationen. „Die humanitäre Krise in Afghanistan verschärft sich rapide“, beschrieb zuletzt das UN-Nothilfebüro (OCHA) die Lage. Schon im Frühjahr schätzte die UN den Spendenbedarf für Afghanistan auf knapp 1,3 Milliarden Dollar. Der Bedarf werde sogar steigen, weil die Ernten schlecht und etwa Öl, Weizen, Reis und Zucker für viele Menschen unerschwinglich geworden seien, berichtete das UN-Nothilfebüro. Während Deutschland und Finnland bereits am Dienstag angekündigten, die Entwicklungshilfe für Afghanistan vorerst einzustellen, sprach sich der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell, für eine Erhöhung zumindest der humanitären Hilfe aus, um Notleidenden zu helfen.   

Ein Taliban-Kämpfer steht an einem Kontrollpunkt im Viertel Wazir Akbar Khan.
Ein Taliban-Kämpfer steht an einem Kontrollpunkt im Viertel Wazir Akbar Khan.

© dpa/ Rahmat Gul

Spurlos vorüber gingen die Ereignisse der letzten Woche an der Arbeit der Organisationen nicht. Für die deutsche Welthungerhilfe etwa arbeiten im Land in der Regel 173 lokale Mitarbeiter und vier Internationale, in den Regionen stehen sie in ständigem Kontakt mit der Bevölkerung und den lokalen Gemeindevertretern. Derzeit sind die Büros geschlossen, wie die Welthungerhilfe mitteilt. Auch deutsche Mitarbeiter seien derzeit nicht im Land. „Aber die lokalen Mitarbeiter werden die Arbeit so bald wie möglich wieder aufnehmen.“   

Sobald die Sicherheitslage es zulasse, sollen auch die internationalen Kollegen und Kolleginnen ins Land zurückkehren. Eine Sprecherin teilt aber auch mit: „Wir benötigen natürlich Sicherheitsgarantien für unsere Mitarbeiter sowie ungehinderten Zugang zu den Projektgebieten.“ Die Lage sei zu unübersichtlich, um sie abschließend beurteilen zu können.   

„Die Taliban sind keine homogene Gruppe“

Die Führung von Oxfam verhält sich ähnlich vorsichtig. 128 Mitarbeitende, 80 in Kabul und 48 in Herat. 11 davon sind Frauen. Die Internationalen haben das Land inzwischen verlassen. „Wir arbeiten aktuell in mehr als 40 Distrikten in vier Provinzen und erreicht damit mehr als 50.000 Menschen. "Die Projektarbeit ist aufgrund der Sicherheitslage und mangelnden Erreichbarkeit der entsprechenden Gebiete allerdings vorübergehend eingestellt“, teilt Oxfam auf Anfrage mit.  

„Die Taliban haben öffentlich erklärt, dass Hilfsorganisationen im Land bleiben sollen und dass es keine Vergeltungsmaßnahmen geben wird – es bleibt zu hoffen, dass sie sich daran halten“, sagt Caritas-Mann Recker. Er gibt aber auch Hinweise darauf, was die Lageeinschätzung für Organisationen so schwierig macht: „Es gibt keine ausgesprochenen Drohungen gegen internationale Helfer – aber die Taliban sind auch keine homogene Gruppe. So lässt sich die Lage aktuell schlecht einschätzen.“  

Das Welternährungsprogramm will seine Programme ausbauen

Die Vereinten Nationen hatten dennoch früh bekräftigt, im Land bleiben zu wollen. Zwar seine einige UN-Mitarbeiter vorübergehend versetzt worden, doch bleibe die Mehrheit des humanitären Personals in Afghanistan, man wolle Millionen Menschen weiterhin helfen, hieß es am Dienstag. So will auch das UN-Welternährungsprogramm (WFP), seit 1963 in Afghanistan, bleiben. „Wir wollen unsere Programme auch in Zukunft weiterführen und sogar ausbauen“, teilt das WFP auf Anfrage mit. „Das ist jetzt wichtiger denn je, gerade vor dem Hintergrund steigender humanitärer Not durch Konflikt, Hunger und Vertreibung. Dürren und die Auswirkungen der Pandemie verschärfen die Situation noch weiter.“   

Taliban-Kämpfer patrouillieren nach ihrer Machtübernahme durch Kabul.
Taliban-Kämpfer patrouillieren nach ihrer Machtübernahme durch Kabul.

© dpa/ Rahmat Gul

Nach eigenen Angaben hat das WFP trotz der aktuellen Unsicherheit hunderte Mitarbeiter im ganzen Land in mehreren Büros, sowohl nationale als auch internationale. 5,5 Millionen Menschen wurden in diesem Jahr erreicht. Die Verteilstellen funktionieren, die Teams sind auf der Straße, registrieren gerade im Raum Kabul Hilfsbedürftige. Die Sicherheit des Personals stehe an oberster Stelle. „Aber solange es sicher genug ist und wir Menschen mit lebensrettender Hilfe erreichen können, sind wir entschlossen weiter an der Seite der afghanischen Bevölkerung zu stehen“, sagte ein Sprecher.

So bleibt auch das UN-Nothilfebüro OCHA. 16 Millionen Menschen sollen durch Schulangebote und Kliniken erreicht werden. „Die Nothilfegemeinschaft ist entschlossen, zu bleiben und zu versorgen“, heißt es. 

Arbeit im Frauenbereich bleibt fraglich

Heikle Fragen bleiben. Wie etwa Arbeit im Frauenbereich möglich sein wird, oder durchgeführt von weiblichen Mitarbeiterinnen, ist offen. „Man wird sich mit den Taliban immer wieder austauschen müssen“, sagt Caritas-Mann Recker. Caritas-Projekte im Land betreffen neben Erwachsenenbildung, Drogenabhängigkeit und Nothilfe für Binnenflüchtlinge auch die Mutter-Kind-Gesundheit.

Tatsächlich könnte sich die Rückkehr der Taliban vor allem für die Frauen im Land gravierend auswirken.  Zwar gaben die Taliban kund, Frauen könnten weiterhin zur Schule und zur Arbeit gehen, allerdings war dies während ihrer früheren Regierungszeit zwischen 1996 und 2001 nicht möglich. Frauen berichteten, dass sie seit der Machtergreifung der Taliban teilweise nicht mehr das Haus verlassen haben, Mütter befürchten Zwangsverheiratungen ihrer Töchter.  

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Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) etwa kümmert sich neben der Bekämpfung von multiresistenter Tuberkulose und Covid-19 vor allem um Risikoschwangerschaften, Geburten und junge Kinder – und die Organisation will im Land bleiben. Die Standorte Herat, Kandahar, Khost, Kunduz und Lashkar Gah seien weiter in Betrieb, schreibt die Organisation auf Twitter. In Herat seien in der vergangenen Woche 555 Patient:innen behandelt worden. Tuberkulose-Patient:innen würden nun aber häufig per Video- oder Telefonanruf fernbehandelt und auf ihre Medikamente eingestellt.  

Frauen drohen durch die Machtübernahme der Taliban drastische Einschränkungen.
Frauen drohen durch die Machtübernahme der Taliban drastische Einschränkungen.

© Reuters/Stringer

Das Internationale Rote Kreuz Komitee (ICRC) ist ebenfalls massic im Einsatz. Zwar habe es keine Kampfhandlungen in Kabul gegeben, in anderen Städten wie Lashkar Gah, Kandahar and Herat aber wurden tausende Menschen verletzt. „Viele von ihnen werden langfristige Pflege brauchen“, so die Prognose des Roten Kreuzes. Alleine in den ersten zwei Augustwochen versorgte das Rote Kreuz 7600 Menschen, die Schussverletzungen erlitten hatten.  

Die Homepage von UN Women war nach dem Regimewechsel in Afghanistan zeitweise nicht zu erreichen. Ob dies aus Sicherheitsgründen geschah, wollte die Organisation nicht kommentieren. Am Freitag teilte sie schließlich öffentlich mit, dass Mädchen- und Frauenrechte in Afghanistan beschützt werden müssten. „Wir verfolgen die neuesten Entwicklungen mit großer Sorge“, heißt es auf der Seite. UN Women wolle im Land präsent bleiben und Kollaborationen mit lokalen Partnern fortführen.

Viele internationale Kräfte wollen bereits zurück, sobald es eben geht. Stefan Recker, Leiter des Kabuler Büros von Caritas International, plant etwa damit, Anfang September wieder in Afghanistan zu sein. „Ich würde lieber heute als morgen zurückfliegen“, sagt Recker.   

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