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Junge Tschechen feiern 2004 die EU-Erweiterung mit einem Konzert auf einem Platz in der Altstadt von Prag.

© dpa

15 Jahre EU-Osterweiterung: „Mehr Europa“ reicht als Antwort nicht mehr

Am 1. Mai 2004 erlebte die EU ihre größte Erweiterung. Viele Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Doch es gibt Hoffnung. Ein Gastbeitrag aus Tschechien.

Tomáš Petrícek ist Außenminister der Tschechischen Republik.

Europa hat allen Grund zu feiern – trotz Brexit. Vor 15 Jahren erlebte die EU die größte Erweiterung ihrer Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft. Zehn Länder traten am 1. Mai 2004 bei. Damals bedeutete Europa Zukunft. Man durfte hoffen, dass das 21. Jahrhundert einem glücklichen und erfolgreichen Europäischen Kontinent gehören werde. Doch es kam anders.

Weltweit haben Konflikte und Krisen zugenommen. Auch Europa ist nicht frei davon. Die EU ist derzeit kein Synonym für Aufbruch und Zukunft. Nicht nur bei den Briten weckt das Ziel einer weiteren europäischen Integration Befürchtungen. Die Losung „Mehr Europa ist die Antwort“ scheint mehr für den Geist des vergangenen 20. Jahrhunderts als für den aktuellen Zeitgeist zu stehen. Es wird schwieriger, an den Optimismus der großen Europäer anzuknüpfen, die für Erweiterung gekämpft haben. Man ist dankbar für den Reformeifer vom Präsident Macron wie auch für die „Roadmap“ der stufenweise anzugehenden Behebung der bestehenden Mängel, wie die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer die EU fit für das 21. Jahrhundert machen will. So entsteht ein Diskurs, auf den keine wahre Gemeinschaft verzichten kann. Doch Diskurse allein können die Gemeinschaft nicht retten.

Wie kann die EU auf die Siegerstraße der Geschichte zurückkehren?

Aus tschechischer Sicht sollten wir uns fragen, wie wir die Chancen, die uns die erweiterte EU weiterhin offeriert, gemeinsam besser nutzen können. Und wie wir umgekehrt die Probleme, vor die uns der Integrationsprozess weiterhin stellt, gemeinsam besser meistern können.

Wie kann die EU auf die Siegerstraße der Geschichte zurückkehren? Der gemeinsame Markt und die Kohäsionspolitik ermöglichen den EU-Bürgern einen Lebensstil und Lebensstandard, der für die große Mehrheit attraktiv ist. Doch es fehlt an positiven Nachrichten über umwerfende Fortschritte in der politischen und wirtschaftlichen Kooperation, die unter Europäern erneut die Begeisterungswellen auslösen würden, von denen sie noch Ende des 20. Jahrhunderts getragen wurden.

Auf Grund der jüngsten Krisen scheinen die EU-Bürger heute skeptisch zu sein. Selbst die besten Zielbeschreibungen und strategischen Konzepte erreichen die Menschen nur mit Mühe. Erfolge sind einerseits nötig, genügen andererseits aber nicht, um die Stimmung zu wenden. Selbst gut gemeinte Taten können, wie die Aufnahmebereitschaft der Deutschen in der Migrationskrise zeigte, zu Missverständnissen und Polarisierung führen. Wir brauchen also vor allem eine Stärkung des gegenseitigen Vertrauens. Das gilt ganz besonders im Verhältnis der Mitgliedstaaten zu den gemeinsamen Institutionen.

Das Subsidiaritätsprinzip kommt auch durch das politische Tagesgeschäft unter Druck

Wie kann man Vertrauen zurückgewinnen? Ein Rezept, das sich bewährt hat, ist das Subsidiaritätsprinzip: Auf die Ebene der gemeinsamen Politik in Brüssel gehören nur die Herausforderungen, die gemeinschaftlich gelöst werden können. Beispiele kommen aus dem Bereich des Außenhandels sowie des Binnenmarkts. Die Tschechische Republik sieht zum ein, dass ein integrierter Gasbinnenmarkt die Risiken der Gasversorgung minimiert. Komplizierter ist jedoch die Sache mit einer gemeinsamen EU-Außenpolitik, die zwar zwingend erscheinen mag, aber man ist einfach nicht so weit. Unbedachte Beschleunigung könnte hier mehr Schaden als Nutzen bringen.

Die lokalen Probleme hingegen, die man vor Ort lösen kann, sollten auf der lokalen Ebene bleiben. Beispiele hier wären das Bildungswesen, Kultur- und Tourismuspolitik. Die Zuständigkeiten der Union sind in EU-Verträgen nach dem Willen der Mitgliedstaaten verankert.

Leider genügt die Besinnung auf das Subsidiaritätsprinzip allein nicht, um die verunsicherten Europäer von den Vorzügen der europäischen Integration zu überzeugen. Das galt schon früher, als „mehr Europa“ noch eine vielseits akzeptierte Antwort auf die meisten Probleme war. Heute gilt das erst recht. Das Subsidiaritätsprinzip kommt auch durch das politische Tagesgeschäft unter Druck. Man ist versucht, von einer „Ära der deal-bezogenen Demokratie“ sprechen, in der das außenpolitische Gewicht einzelner Länder nicht nur von den Werten, für die sie stehen, abgeleitet wird, sondern immer häufiger von dem, was sie auf der internationalen Bühne durchsetzen können.

Das Ziel ist es, mehr Synergien und konstruktive Kompromisse zu erreichen

Was tun? Es wird wenig helfen, die aktuellen Trends zu ignorieren. Wenn sich Politik heute vermehrt als Deal abspielt, ist es besser, die Mechanismen zu verstehen und so auszugestalten, dass man sie zum Vorteil der EU und der Stabilität in der Welt nutzen kann. Die EU-Institutionen als Hüter der Verträge bleiben weiterhin eine unverzichtbare Errungenschaft. Es wäre aber gefährlich, sie leichtsinnig zu überfordern. Die Mitgliedstaaten und Regionen sollen auch eingeladen sein, ihren Beitrag zur Unterstützung der Union zu leisten.

Unter den aktuellen Bedingungen halte ich es für einen logischen Trend, dass in der EU zunehmend regionale Interessengruppen gegründet werden. Ich sehe in ihnen eine mögliche Hilfe für den Zusammenhalt – jedenfalls unter der Bedingung, dass diese Gruppen sich nicht nur um das Wohlergehen ihrer Regionen und um ihre Interessen kümmern, sondern auch darum, dass die EU als Ganzes besser funktioniert und attraktiver wird. Dann können regionale Zusammenschlüsse das Subsidiaritätsprinzip auch in Zeiten der „deal-bezogenen Demokratie“ stärken. Das wird nicht nur der Suche nach einer wirkungsvollen Nutzung des Subsidiaritätsprinzip selbst gut tun, sondern auch den internen Diskurs fördern.

Die Tschechische Republik ist selbst Mitglied in einigen Regionalkooperationen: im deutsch-tschechischen strategischen Dialog, in der „Slavkov“-Kooperation mit der Slowakei und Österreich, in der Visegrad-Gruppe (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn). Von Juli an wird Prag den Vorsitz in der Visegrad-Gruppe für ein Jahr übernehmen. Unser Ziel ist es, mehr Synergien und konstruktive Kompromisse zu erreichen.

Kreative Vernunft und eine Stärkung des Vertrauens sollen die Attraktivität der EU stärken

Die tschechische Präsidentschaft möchte die Suche nach neuen Impulsen im Bereich der östlichen Partnerschaft intensivieren sowie sich für die Fortsetzung der Integrationsprozesse mit den Ländern aus dem Westbalkan starkmachen. Auch der weitere Ausbau des Binnenmarkts, die Kooperation bei der Entwicklung und Implementierung neuer Technologien sowie die Unterstützung der Entwicklungshilfe in den Ländern, wo die Migration herkommt, steht ganz oben auf der Programmliste.

Wir möchten zur Deeskalation der bestehenden Meinungsverschiedenheiten über europäische Politik beitragen. Es wäre töricht zu erwarten, dass wir auf diesem Weg alle Probleme lösen. In Migrationsfragen bleiben die Mitteleuropäer wohl zurückhaltender. Umgekehrt sind die Westeuropäer zurückhaltender gegenüber neuen EU-Erweiterungen. Doch mit mehr Vertrauen ineinander können wir uns um tragfähige Kompromisse bemühen und zu allgemein akzeptablen Lösungen durch den Rat der EU gelangen.

Kreative Vernunft und eine Stärkung des Vertrauens sind unser tschechischer Ansatz, um die Attraktivität der EU zu stärken. In diesem Jahr, in dem wir den 15. Jahrestag der großen Erweiterung feiern, kann die EU eine Visegrad-Präsidentschaft im Geiste der Inklusivität und der Förderung des europäischen Miteinanders besonders gut gebrauchen. Betrachten wir es als unser Geschenk an Europa. Nach vielen Jahren, in denen die EU uns beschenkt hat, ist es an der Zeit auf diesem Wege etwas zurückzugeben.

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