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Politik: 1, 2, 3, 4 – die Glücksbringerin

Sie steigt auf Dächer, hat Ruß im Gesicht, und manchmal fassen die Menschen ihr einfach an die Jacke. Ramona Mielke ist Schornsteinfegerin mit Nebenaufgabe. Und gerade hat sie Hochkonjunktur.

Wenn die Menschen vor ihr ausspucken und dazu Beschwörungsformeln murmeln, lächelt sie höchstens heimlich vor sich hin. So hält sie es auch, wenn Fremde ihr plötzlich an die Schulter fassen. Oder an ihren Jackenknöpfen drehen wollen. Kommt alles vor. Dass Menschen seltsame Dinge tun, wenn sie auftaucht, ist sie gewöhnt, und dass das jetzt, zum Jahresende immer mehr wird, auch. Es gehört praktisch zur Arbeitsplatzbeschreibung: Ramona Mielke, 35 Jahre alt, ist Schornsteinfegerin. Das ist jedenfalls ihr Hauptberuf – doch an dem hängt automatisch noch ein Nebenjob: als Glücksbringerin.

„Eins, zwei, drei, vier, das Glück gehört mir“, sagen die Menschen, wenn sie Ramona Mielke oben auf den Dächern von Berlin-Schöneberg sehen, und auch, wenn sie ebenerdig um die Ecke biegt in schwarzer Arbeitskleidung, aber da müssen sie genauer hinschauen, um sie überhaupt zu erkennen. Sie trägt nämlich nicht den klassischen Anzug mit doppelreihiger Knopfleiste, sie trägt auch keinen Hut, sondern eine moderne Arbeitsuniform. Dunkle Sicherheitsschuhe, schwarze Cargohose, schwarzes Polohemd und schwarze Jacke. Die langen, blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Schornsteinfegerin in ihr zeigt sich allein an den feinen Rußspuren, die auf den Wangen glänzen. Und an ihrer großen Gürtelschnalle aus Messing, auf der die alten Arbeitswerkzeuge der Kaminkehrer prangen: ein Besen und zwei gebogene Schultereisen. Mit denen wurde früher hartnäckiger Ruß aus dem Schornstein gekratzt.

Ramona Mielke gefällt es, ein Glücksbringer zu sein. „Wenn die Leute an ein Symbol glauben, bringt das auch Glück“, sagt sie. Im Sommer steht sie oft im traditionellen Anzug, mit Kehrbesen auf der Schulter und mit Zylinder bei Hochzeiten Spalier. In den restlichen Jahreszeiten nickt sie nett, wenn ihre Kunden ihr nach einem Termin an die Schulter fassen und „jetzt will ich auch meinen Teil des Glücks“ sagen. Und jetzt, sie steht noch in ihrer Werkstatt und schaut zum Fenster hinaus in einen strahlenden Wintermorgen, sagt sie: „Ich mache den Beruf seit mehr als 15 Jahren und noch immer ist es für mich der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann.“ Für sie selbst hat sich also das Glücksbringerische der Schornsteinfegerei voll erfüllt. Aber wie ist es mit den anderen Menschen? Wieso reagieren die auf Ramona Mielke und deren rußverschmierte Kollegen auf so bemerkenswerte Weise?

Dazu hat sich Annegret Braun, Lehrbeauftragte für europäische Ethnologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität Gedanken gemacht. Sie forscht vor allem zu den Ursprüngen von Bräuchen und zu der Frage, wie sich die Vorstellung von Glück in der Geschichte gewandelt hat. Sie sagt, dass der Glaube an Glückssymbole mit der Unsicherheit der Zukunft zusammenhänge. „Wir wollen aber trotzdem eine gewisse Sicherheit haben, dass alles gut wird. Deshalb suchen wir nach verschiedenen Zeichen, die uns das bestätigen.“ Heute herrsche die Ansicht, dass jeder sein Glück selbst in der Hand habe, aber die Menschen wüssten, dass vieles Schicksal ist. Um dieses Schicksal positiv zu beeinflussen, hielten sie an Glücksbringern oder Glückssymbolen fest. Anders als ein Glücksbringer wie etwa ein besonderes Armband, das dann einem Prüfling qua purer Einbildungskraft zum Bestehen verhelfen soll, hat die Glückssymbolik des Schornsteinfegers aber eine tatsächliche Dimension: Der Schornsteinfeger brachte und bringt tatsächlich Glück, genauer gesagt wendet er Unglück ab. „Ein gekehrter Kamin“, weiß die Ethnologin Braun, „verhindert Wohnungs- und Hausbrände. Wenn also der Schornsteinfeger gerade in der Gegend ist, sinkt die Brandgefahr.“ Das war früher noch viel wichtiger als heute, denn früher wurde am offenen Feuer gekocht. Ruß bildete sich schnell, verstopfte den Rauchabzug und die Brandgefahr stieg. Der regelmäßige Besuch eines Schornsteinfegers war überlebenswichtig. Außerdem wurde der Kaminkehrer zum Glückssymbol, weil er oft einer der Ersten war, der nach Silvester Glück im neuen Jahr wünschte. Garniert allerdings mit einer Zahlungsaufforderung: „Der Schornsteinfeger war meist in den ersten Januartagen unterwegs, um die Abrechnung zu machen“, sagt Annegret Braun. Für frei erfunden hält sie dagegen jene dritte Erklärung zur Herkunft der Glückssymbolik, die vor allem unter den Schornsteinfegern selbst kursiert. Die geht so: Die Menschen glaubten früher, der Schornsteinfeger sei mit dem Teufel im Bunde, weil er schwarz angezogen war und ein rußverschmiertes Gesicht hatte. Glück brachte er, so heißt es, weil er die Dämonen im Zaum hielt.

Warum man dem schwarzen Mann dann aber am Jackenknopf dreht oder auf die Schulter fasst oder vor ihm auf einem Bein herumhüpft? Das ist alles völlig ungeklärt und weiterhin rätselhaft.

Ramona Mielke ist inzwischen seit zwei Stunden unterwegs und war schon in zwei Wohnungen. Drin, nicht oben drauf. Immer seltener steigen sie und ihre Kollegen aufs Hausdach, um den Kehrbesen an einer Eisenkugel den Schornstein hinabgleiten zu lassen und so Ruß, Staub und Laub zu entfernen. Die Heizungen und die Öfen sind heute sauberer als früher, deshalb fällt weniger Ruß an. Der moderne Schornsteinfeger prüft, reinigt und beurteilt Feuerungs- und Lüftungsanlagen, ermittelt strömungs-, verbrennungs- und wärmetechnische Berechnungen, stellt Immissionsschutzwerte fest oder berät zur Energieeinsparung und zum Umweltschutz.

Oder schlägt sich mit jenen Kunden herum, die ihn nicht in die Wohnung lassen wollen. Und zwar aus politischen Gründen. In den vergangenen Jahren haben sich Gruppen gebildet mit dem Ziel, den Schornsteinfegern das Handwerk zu legen, zum Beispiel die „Interessengemeinschaft für ein zeitgemäßes Schornsteinfegerwesen“. Auf deren Homepage steht: „Symbolfigur Glücksbringer? Heute ist der Schornsteinfeger vor allem ein Symbol für nutzlose Beschäftigung.“

Anlass für den Ärger war das Kehrmonopol, das bis zum 31. Dezember 2012 galt. Es war verantwortlich dafür, dass jeder der 7888 Kehrbezirke in Deutschland einem Schornsteinfeger gehörte, bis der in Rente ging. Und dass nur dieser Bezirksschornsteinfeger die gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollen in seinem Bezirk erledigen durfte. Das Monopol stammte aus der NS-Zeit, da war es Teil eines Gesetzes über das Schornsteinfegerwesen, das während der Gleichschaltung verabschiedet wurde. Mit dem Monopol wurde auch der Kehrzwang deutschlandweit eingeführt. Zwar existierten Kehrbezirke mit zuständigem Schornsteinfeger und Kehrzwang auch schon lange davor, doch waren die Vorschriften immer nur auf einzelne Städte oder Regionen beschränkt, und die Einrichtung von Kehrbezirken war freiwillig.

Im Jahr 1578 setzte die Stadt Breslau als eine der ersten eine „Feuerordnung“ fest, in der Kehrbezirke und regelmäßige und verpflichtende Kontrollen festgeschrieben waren. Etwa 1720 erließ der preußische König Friedrich Wilhelm I. dann eine Brandschutzverordnung für das gesamte Preußen. Dort stand, dass und nach welchen Vorgaben Kehrbezirke eingerichtet werden können. Pflicht war für Hauseigentümer nur die regelmäßige Reinigung des Schornsteins. Auch die Gewerbeordnung des Deutschen Reichs aus dem Jahr 1871 verpflichtete die Hausbesitzer zum regelmäßigen Schornsteinkehren, die Einrichtung von Kehrbezirken war gestattet. Erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren sowohl Kehrbezirke als auch der Besuch des Bezirksschornsteinfegers Pflicht.

„Weg mit dem Nazi-Gesetz“, forderten deshalb in den vergangenen Jahren die Interessengemeinschaften und die Hauseigentümerverbände. Im Jahr 2003 fanden die Schornsteinfeger-Gegner einen wichtigen Alliierten: die Europäische Kommission. Für Brüssel war es eine inakzeptable Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit, es sollte wie alle Monopole verschwinden. Gegen die Pflicht, den Schornstein regelmäßig zu reinigen, hatte die Kommission übrigens nichts. Sie gilt auch in fast allen anderen europäischen Ländern. 2008 schließlich beschloss der Bundestag die Reform des Schornsteinfegerwesens. Vor fast genau einem Jahr, am 31. Dezember 2012, trat sie in Kraft, das Monopol fiel und mit ihm verschwanden die festgesetzten Gebühren. Viele hofften, mit dem Ende des Monopols würden die Schornsteinfegerpreise sinken. Doch es hat sich wenig geändert. Noch immer kosten die Leistungen etwa so viel wie vorher. Noch immer gibt es in Deutschland 7888 Kehrbezirke. Noch immer regiert über jeden Bezirk ein bevollmächtigter Schornsteinfeger. Noch immer darf nur er die alle dreieinhalb Jahre vorgeschriebene Feuerstättenschau durchführen und anschließend einen Bescheid erstellen, in dem festgehalten wird, wann in einem Gebäude welche Kontrollen durchgeführt werden müssen. Und noch immer pflegt er für jedes Gebäude in seinem Bezirk das Kehrbuch, in dem alle Kontrollen und Messungen eingetragen werden müssen. Neu ist: Die im Feuerstättenbescheid festgelegten Kontrollen kann jetzt auch ein freier Schornsteinfeger erledigen. Neu ist auch: Der Bezirksschornsteinfeger erhält einen Kehrbezirk nicht mehr auf Lebenszeit, sondern nur für sieben Jahre, dann schreibt die Verwaltung den Bezirk neu aus und Schornsteinfeger aus Deutschland und aus ganz Europa können sich darum bewerben.

Die Schöneberger Kehrmeisterin Mielke kann das nicht schocken. Die meisten potenziellen Konkurrenten könnten wegen hoher Anfahrtskosten keine wettbewerbsfähigen Preise anbieten. Ihre Devise heißt: „Wenn mich ein Kunde aus Spandau anfragt, dann sage ich ab.“ In ihrem Kehrbezirk braucht sie mit dem Fahrrad nur fünf Minuten von einem Ende zum anderen, Anfahrtskosten berechnet sie also nicht. Das Gebiet hat sie erst zum Jahresende 2012 übernommen, fast genau zu dem Zeitpunkt, als das Monopol gefallen ist und ihr Vorgänger, wie bis dahin üblich, in Rente ging. Allerdings nutzte der nun die Gesetzesänderung und machte sich selbstständig. Als freier Schornsteinfeger behielt er einen Teil seiner alten Kunden. So hatten zum Jahresbeginn 2013 nur etwa zwei Drittel der Hausbesitzer im Bezirk die neue Bezirksschornsteinfegerin Mielke mit den regelmäßigen Kontrollen beauftragt. Mittlerweile sind es etwas mehr geworden, und sie geht davon aus, dass ihre Kundenzahl weiter wächst.

Berlinweit hätten weniger als 95 Prozent der Kunden die Kontrollen an freie Schornsteinfeger vergeben, sagt Henry Laubenstein, Sprecher der Berliner Schornsteinfeger-Innung und Bezirksschornsteinfeger in Wilmersdorf. Neben dem Preis gebe es noch ein Argument: Bürokratie. Kunden, die einen freien Schornsteinfeger mit den Kontrollen beauftragen, müssen hinterher die Formblätter selbst dem Bezirksschornsteinfeger geben – weil der weiter das Kehrbuch führt.

Zu Jahresbeginn war Mielke noch unsicher, wie sich die Reform auf ihren Berufsalltag auswirken würde. Deshalb stehen in der Werkstatt, die sie mit einem Kollegen teilt, Kamine und Öfen. „Wir wollten uns breiter aufstellen und haben begonnen, auch den Verkauf von Kaminen anzubieten.“ Vor Jahresende 2012 wäre das nicht möglich gewesen. Schornsteinfegern war es bis dahin verboten, einer auf Gewinn ausgerichteten Nebentätigkeit nachzugehen.

Aber Monopol hin oder her: Die einschneidendere Veränderung des Kehrmeisterlebens liegt ohnehin woanders. „Weil die Heizungen und die Öfen seit Jahren immer sauberer werden, werden die Intervalle, in denen wir die Kamine kehren müssen, immer größer“, sagt Henry Laubenstein von der Berliner Innung. „Unsere tatsächliche Arbeit besteht deshalb vor allem aus Energieberatungen.“ Der Schornsteinfeger wurde zum Dienstleister in Sachen Gebäudetechnik. Los ging das bereits Mitte der 70er Jahre. Seitdem müssen Schornsteinfeger laut Gesetz die Abgasemissionen der Heizungen messen, auch den CO2-Ausstoß der Anlagen. Und seit dieser Zeit beraten sie ihre Kunden auch – kostenfrei –, wie sie Energie sparen können. Seit etwa zehn Jahren hat sich die Energieberatung, vor allem das Ausstellen des Energiepasses, sogar als eigener Geschäftszweig der Branche entwickelt, dafür müssen die Schornsteinfeger Lehrgänge besuchen. Mehr als 90 Prozent haben das bereits gemacht. Auch Ramona Mielke. Energieberatung macht ihr mit am meisten Spaß in ihrem Arbeitsalltag.

Kontakt mit Menschen, das war das Einzige, was sie von dem Beruf wollte, den sie nach der Schule ergreifen würde. Welcher das sein sollte, wusste sie dagegen nicht. Da begegnete ihr Vater einem Schornsteinfeger und schlug ihr vor: Wie wär’s? Sie probierte es aus und blieb dabei. Auch wenn Mädchen und Frauen eher selten sind im dem Gewerbe, Mielke ist eine von 2000 Schornsteinfegerinnen deutschlandweit.

Wenig später steigt sie im letzten Stock eines Schöneberger Wohnhauses durch eine Luke aufs Dach. Auf dem Flachdach glitzern kleine Eiskristalle, aus allen Schornsteinen steigt weißer Rauch auf. Dann steht sie dort und schaut mit vergnügtem Blick über die weite Silhouette von Berlin. Und es ist völlig klar, dass sie ihr Stück vom Glück gefunden hat.

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