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Thomas Conrad

© privat

Nachruf auf Thomas Conrad: Vergesst Paris, vergesst London!

Um die Musik ging es ihm eigentlich, als er in den Staatsdienst trat. Aber im Musikreferat ist er nie gelandet. Dafür da, wo es um alle Künste geht

Von Kerstin Decker

Jedes Mal, wenn der frühere Referatsleiter im Kulturstaatsministerium Thomas Conrad bei Dussmann eine neue CD kaufte, machte er als erstes eine Kopie: für den früheren Vizepräsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Norbert Zimmermann. Der hörte, und schon begannen sie zu streiten, noch über die entlegenste Verästelung der Interpretation eines Stücks, über den Zehntel-Augenblick, in dem ein Geigenbogen auf dem Instrument aufsetzte. Als ginge es um alles. Genauso ist es, wussten sie beide.

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, hat Friedrich Nietzsche gesagt. Thomas Conrad begriff das schon als Kind,  spätestens, seit er als kleiner Junge seine Großmutter ins Bayreuther Festspielhaus eintreten sah, ganz allein. Die schlesische Flüchtlings-Familie Conrad hatte sehr für diese eine Großmutter-Karte gespart. Und ich gehe da auch einmal rein, beschloss der Enkel, als sich die Türen vor ihm schlossen.

Im heißen Sommer 1948 lief eine hochschwangere Frau von Harsdorf nach Bayreuth. In ihrem Zustand solle sie lieber zu Hause bleiben, riet ihr jeder Blick unterwegs, aber das war unmöglich. Sie dachte nur an die Geburtsurkunde ihres Kindes. Sollte da etwa Harsdorf stehen, der Name dieses kleinen Kaffs, Ort der Rettung und Demütigung zugleich? Das gehobene Breslauer Bürgertum hatte bei fränkischen Dörflern Zuflucht nehmen müssen, bei den Banausen, die sie sehr spüren ließen, wie lästig sie waren. Und dass sie diese Schwangerschaft für absolut unpassend hielten. Als wäre es ohne Kind nicht schon eng genug gewesen. Eva Conrad, die im ersten Breslauer Künstler-Salon aufgewachsen war, stritt sich nun mit Dorffrauen um Brennnesseln für die nächste Suppe. Nein, niemals Harsdorf! Und Eva Conrad, Ehefrau des Breslauer Oberstudienrats Werner Conrad, schaffte es zu Fuß im neunten Monat bis nach Bayreuth. Dann wurde sie ganz ruhig. Ein durchaus vertretbarer Ortsname würde auf der Geburtsurkunde ihres Sohnes stehen.

Für Thomas Conrad, geboren in Bayreuth, wurde Harsdorf das Paradies, ein Kinderparadies. Er spürte nichts vom Hader der Eltern, die nie mehr hierher zurückkehren würden, als sie endlich fortziehen konnten. Thomas Conrad kam immer wieder, ins Festspielhaus und nach Harsdorf. Als er noch in diesem Sommer das Haus seiner frühen Kindheit fotografierte, traten die heutigen Hausherrn nicht in gelassenster Stimmung vor die Tür: Was das denn wohl solle? Spionage? Und kurz darauf sprachen sie mit dem unbefugten Fotografen, wie man mit alten Freunden spricht. Und auch fast genauso lange. Seine Frau Mechthild war nicht erstaunt: So war es immer gewesen. Ihr Mann war ein Menschenfänger. Schon die kleinen Kinder liefen ihm nach. Und später im Ministerium schien allein seine Anwesenheit die heißen Stirnen zu kühlen. Ob Angela Merkel oder die Reinigungskraft: Wen er ansah, der spürte, dass er existierte.

Die Virtuosenlaufbahn bleibt ihm verwehrt

Nein, es gab nichts, was das Flüchtlingskind Thomas Conrad Harsdorf vorzuwerfen hatte, nur eins: Er wünschte sich ein Klavier, aber bekam keins. Sechs Menschen in zwei kleinen Zimmern, da war kein Platz für ein Klavier. Höchstens, wenn alle sehr zusammenrückten, für eine Geige.

Kein Klagelaut des Violin-Schülers ist überliefert. Ungünstig war nur, dass der Zögling entweder die Noten auf dem Pult deutlich erkennen konnte oder seinen Bogen auf den Saiten vor ihm, aber nie beide gleichzeitig. Mit Brille wurde das auch nicht besser. Er würde wohl kein Yehudi Menuhin werden. Aber die verwehrte Virtuosen-Laufbahn schien ihn nicht zu erschüttern. Sind Virtuosen nicht im Grunde zu einem stummen Dasein verurteilt? Sie spielen, reden dürfen sie dabei nie. Thomas Conrad schien das einseitig. War über Musik zu reden, nicht fast so schön wie welche zu machen?

Irgendwann teilte der Sohn seinem Vater mit, dass er einen Beschluss, sein künftiges Leben betreffend, gefasst habe: Er werde Musikredakteur beim WDR. Oberstudienrat Werner Conrad war Pädagoge genug, um zu wissen, dass man Kindern nicht widersprechen sollte, zumindest nicht offen.

Der Vater war inzwischen Studiendirektor an dem Kölner Gymnasium, das bald auch sein Sohn besuchen würde. Thomas mochte die große Stadt, sie schien ihm wie eine erfreuliche Erweiterung von Harsdorf: Das Kind wächst, und der Ort, an dem es lebt, wächst mit. Leben ist, wenn alles an Umfang gewinnt. Das Rheinland und Thomas Conrad fassten sofort eine spontane Zuneigung füreinander, die sich nie verlieren sollte. Menschen aus aller Welt würden einmal glauben, in Thomas Conrad der Idee des Rheinländers schlechthin begegnet zu sein. Manchmal glaubte er das auch.

Aber es gab auch Skeptiker. Vor allem, nachdem der Mitarbeiter des Bonner Innenministeriums Conrad seine Begeisterung für eine Stadt äußern würde, deren Namen man sonst auf den Fluren des Ministeriums möglichst vermied: Berlin. War das nicht ein anderer Name für das Ende, erst recht, falls man tatsächlich von Bonn nach Berlin würde umziehen müssen, das aus Sicht nicht weniger irgendwo kurz vor Moskau lag, eine Geografie, die Adenauer aufgebracht hatte? Und was äußerte dieser quasi-rheinländische Referatsleiter, der als Student seine Semesterarbeit per Rad zwischen Berliner ‘68er Wasserwerfern zur Universität befördert hatte, fristgemäß und trocken? Vergesst Paris, vergesst London!, sagte er, da passiert nichts mehr, schaut nach Berlin!

Aber ist da Musik drin - im Innenministerium?

Ein Kollege würde einmal von Conrads frühem „ganz persönlichem Hauptstadtbeschluss“ sprechen. Ohne ihn hätte Thomas Conrad wohl kaum am 7. Oktober 1993 die Leitung des Referats K I 3 übernommen, ein Kulturstaatsministerium gab es da noch lange nicht. Das Referat K I 3 betreute unter anderem die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Bundeskunstsammlung und den Orden „Pour le mérite“, die dem Bund unterstanden. Aber ist da Musik drin - im Innenministerium?

Thomas Conrads Weg ins Innenministerium schien seit dem Abend vorgezeichnet, da er seinem Vater erklärt hatte, dass seine Zukunft in der Musikredaktion des WDR liege. Kurz darauf war der bekannte Verleger Kurt Neven DuMont bei den Conrads eingeladen, Kölns oberster Sachverständiger in Medienfragen, und der hatte einen Auftrag. Nach Art der meisten Erwachsenen fragte er den Sohn des befreundeten Studiendirektors nach seinen beruflichen Interessen, mit jenem durchaus aufrichtigen, zugleich etwas beiläufigen, gönnerhaften Interesse. Und mit folgendem Befund, seine Zukunft betreffend, schlief der Anwärter auf eine Musikredakteursstelle beim WDR an diesem Abend ein: Das würde wohl nichts, schon weil es da höchstens ein, zwei Musikredakteure gäbe. Aber er, DuMont, wisse, wo wirklich die Musik spiele: im Bonner Innenministerium! Das hätte eine ganze Kulturabteilung und sei immer offen für junge begabte Menschen. Allerdings gäbe es einen Haken: Die stellen nur Juristen ein. Der Weg zu den Noten führe demnach über die Paragrafen, er müsse Jura studieren.

Thomas Conrad schien das plausibel, sein Vater atmete auf. Wenn sein Sohn einmal aus allen Notenhimmeln fiele, hätte er doch immer einen grundsoliden Beruf.

An einem frühen Herbstabend des Jahres 1967 stand der neunzehnjährige Student der Rechte Thomas Conrad in Münster vor der Tür einer jungen Dame, die er gar nicht kannte, aber genau das war der Grund seiner Anwesenheit. Er sollte den Umgang mit dem anderen Geschlecht lernen, so war es Tradition in der „Katholischen Deutschen Studentenverbindung Winfridia Breslau“, die seit Kurzem noch einen Zusatz im Namen trug: „Winfridia Breslau zu Münster“. Bereits sein Vater hatte dieser Verbindung angehört. Merksatz Nr. 1: Das andere Geschlecht bestellt man nicht einfach irgendwo hin, man holt es ab. Vielleicht war der Fuchs Conrad - alle Neuen waren Füchse - schon darauf hingewiesen worden, dass das andere Geschlecht gewöhnlich noch nicht fertig ist, wenn man es abholt. So war es auch jetzt. Und obendrein zeigte sich kein Hauch von Euphorie auf dem Gesicht der Abzuholenden, eher ein aufrichtiges Befremden: Aber das war ja noch ein Kind! Nun gut, ein Kind von einmeterneunzig. Trotzdem, genauso alt wie ihr kleiner Bruder. Sie war schon 21 und nicht gewohnt, ihren kleinen Bruder ernst zu nehmen. Und dieser Junge sollte jetzt auf ihre Kosten den Umgang mit dem anderen Geschlecht lernen?

Skandalös jung, doch ganz anders als ihr kleiner Bruder

Der neunzehnjährige Student der Rechte nahm seine Aufgabe sehr ernst. Obwohl diese Studentin der Pädagogik ihn immer ansah, als hätte er Pickel. Obwohl sie eine vollkommene musikalische Analphabetin war. Sie hieß Mechthild. Mechthild, 21 Jahre alt, hörte zwar Töne, sie hatte auch eine sehr schöne Stimme, aber sie wusste nicht, was sie sang. Thomas Conrad begriff, was zu tun war.

Er nahm sie mit zu Streichquartettabenden, von denen sie ganz taub wurde. Und in den Pausen sprach er mit Freunden über die Details des eben Gehörten, sie verstand kein Wort. Und doch kam ihr schon bald der Gedanke: Dieser Mensch war zwar skandalös jung, aber wie ihr kleiner Bruder war er nicht. Er war viel reifer.

Wenn die „Katholische Deutschen Studentenverbindung Winfridia Breslau zu Münster“ ihre Mitglieder zum anderen Geschlecht schickte, meinte sie nicht, dass der Kandidat es möglichst anhand vieler seiner Vertreterinnen so gut als möglich studieren sollte. Der sich immer akuter manifestierende ‘68er-Zeitgeist legte so etwas nahe, aber Thomas Conrad schien Frauen nur im Singulär denken zu können. Etwas später - aber da konnte Mechthild schon nicht mehr weg - würde er mit ihr das ganze Bachsche Weihnachtsoratorium auf der Blockflöte einstudieren, nur um ihr auf die Note genau erklären zu können, was eine Triole oder eine Synkope ist. Er glaubte nicht, dass man durchs Leben kommt, ohne solche Dinge zu wissen. Außerdem übten sie für Mechthilds Eintritt in einen Fortgeschrittenen-Chor, dessen einziger Groupie er werden würde.

Thomas Conrad machte immer wieder die Erfahrung, wie nützlich Kenntnisse sein können, die andere für völlig entbehrlich halten. Wie etwa kauft man präzise bei einem italienischen Fleischer ein, ohne Italienisch zu können? Opernlibretti von Verdi oder Puccini können da sehr hilfreich sein: „Diese, nein, jene ...“ Das altertümliche Italienisch in der Bestellung des Ausländers verwirrte anfangs den Metzger, doch kennen in diesem Land noch viele das nationale Liedgut, so auch er. Die intimen Kenntnisse der italienischen Oper brachten Conrad immer aufs Neue auf komfortabelste, ja geradezu gefeierte Weise durchs ganze Land.

Dabei hatte die Art, wie er Mechthild bald den Heiratsantrag machte, so gar nichts Opernhaftes. Auf der Hochzeit seiner Schwester bemerkte er wie beiläufig: „Dann werden wir wohl die nächsten sein!“ Sie wusste kein wirklich gutes Argument dagegen, und so wurde aus beiden eines jener nicht so häufigen Paare, die sich über Jahrzehnte jeden Tag wieder sagen: Wie gut, dass ausgerechnet wir uns gefunden haben!

Gotteslästerung!

Bei Conrads Eintritt ins Innenministerium spielten keine Geigen, er wurde in die Dienstrechtsabteilung befohlen, Widerspruch zwecklos. Als man ihn dann tatsächlich in die Kulturabteilung rief, teilte er seinem neuen Vorgesetzten sofort mit, die Stelle aufgrund unüberbrückbarer weltanschaulicher Differenzen leider nicht annehmen zu können. Der so Informierte hieß im Ministerium nur „der Schwarze Abt“, aufgrund seiner mental-geistigen Statur. Doch nun widersprach der Schwarze Abt: Genau um dieser Differenzen willen sei er hier. Und in der Tat fegte 1983 gerade ein Proteststurm gegen den damaligen Innenminister Zimmermann durchs Land, weil dieser - wohl auf Anraten des Schwarzen Abts - Herbert Achternbuschs Film „Das Gespenst“ in Acht und Bann legen wollte. Wegen Gotteslästerung!

Thomas Conrad mit seinem Sohn Sebastian

© privat

Das war die Stunde der Jüngeren, das war Thomas Conrads Eintritt ins Filmreferat. Welches Kino fördern wir? Wen schlagen wir für den Deutschen Filmpreis vor? „Die Nacht“ mit Edith Clever natürlich, empfahl Conrad 1986, und 1988 erklärte er, dass „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders den Preis verdient habe, dieser und kein anderer. Wer letzteren für eine Art höheren cinematographischen Unfug hielt oder die Rechtgläubigkeit der auftretenden Engel bezweifelte, äußerte das besser nicht in seiner Gegenwart. Conrad kämpfte um seine Filme und gewann. Schon damals war er, was er noch so oft sein würde - der erste Mann im Hintergrund. Das Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel  würde er einmal „mein Museum“ nennen, schließlich hatte er die Fachaufsicht. Er favorisierte von Anfang an den arg befehdeten Chipperfield-Entwurf, der schließlich auch gebaut wurde nach all den endlosen Debatten, in die sich Conrad wieder und wieder geworfen hatte.

Als 1991 der „Hauptstadtbeschluss“ fiel - gegen Bonn, für Berlin, saß Mechthild Conrad in Tränen zu Hause auf dem Sofa. Ihr Mann tröstete sie, so gut er konnte, übernahm aber bald die „Hauptstadtkultur“ und versuchte fortan, sich an ein Leben im Flugzeug zu gewöhnen. Als viele Jahre später „Dido und Aeneas“, inszeniert von Sasha Waltz, gefördert vom Hauptstadtkulturfonds an der Staatsoper Premiere hatte, trat das verzauberte Paar nach der Vorstellung hinaus in die Berliner Luft, sah sich an und fragte: Wollen wir denn diese Stadt immer nur vom Hotelzimmer aus betreten? Ihre Berliner Wohnung behielten sie auch nach Conrads Ausscheiden aus dem Kulturstaatsministerium.

Anders als bei vielen Rentnern leerten sich seine Tage nie. So viele Konzerte, die er hören musste, so viele Länder, die er (wieder)sehen musste, so viele Freunde. Thomas Conrad gehörte nicht zu denen, die Menschen zurücklassen, allein seine Kölner Abiturklasse traf sich jedes Jahr. An keiner Kirche kam er vorbei, ohne die Orgel darin zu begutachten, oft machte er ein Orgel-Foto, schickte es an seine engste Musik-Freunde: Welche ist das? - Arnstadt!, kam die Antwort umgehend in diesem Frühsommer. Wie jedes Jahr fuhr er nach Bayreuth, der „Tannhäuser“ war die letzte Oper, die er hörte. Wegen der Musik war er in den Staatsdienst getreten, aber das Musikreferat sah ihn nie. Er hatte es zugunsten des „Grundsatzreferats“ ausgeschlagen, da waren alle Künste drin, die Verantwortung für die Hauptstadtkulturpolitik ohnehin.

Es war immer noch Sommer, als vor seinem Sarg noch einmal der Pilgerchor aus dem „Tannhäuser“ erklang: nicht von CD, sondern live gesungen, für ihn. Seine Musik-Freunde brachten ihm ein letztes großes Konzert. Niemand verstand, was geschehen war. Das Wort „krank“ hatte nie zu Thomas Conrad gepasst. Er erklärte auch dem Rettungsdienst, dass bis eben nichts war, als er mitten im Satz nach hinten fiel. Seine Frau hatte den Notruf gewählt, als zu plötzlichen Rückenschmerzen leichte Atemnot gekommen war. Vielleicht kann man dieses Ende nur musikalisch erklären: Musik ist eine Kunst aus Zeit. Ein harter letzter Ton genau in dem Augenblick, da ihn niemand erwartet.

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